Die Erziehung - Roman
einmal mit mir«, brummte Raynaud und ergriff Gaspards Kinn, um es zärtlich zu schütteln. Seine Geste wurde von einem Hustenanfall unterbrochen, und Gaspard befreite sich. Hinter dem Gitterportal tanzte eine Fackel zu ihrer Begrüßung. Die Stimmen des Kutschers und eines Bediensteten ertönten. Die Pferde mussten getränkt werden. In der Enge der Kabine waren die Knie des Barons während der Reise unaufhörlich an seine gestoßen. Trotz des Schmerzes in seinen zu lange zur Unbeweglichkeit verurteilten Beinen wuchs in Gaspard der Wunsch, aus dem Wagen zu steigen, das Weite zu suchen und die Gegenwart des Alten, die er auf seiner Haut spürte, zu verscheuchen. Das Tor quietschte, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Hinter dem Vorhang dehnte sich der Garten aus, erhellt durch einen kränklichen Mond, mit seinen Fontänen und Bosketten. Die Allee glänzte in einer milchigen Klarheit, und als die Droschke hielt, setzte Gaspard sofort einen Fuß auf die Erde. Stallburschen und Diener tauchten auf, fingen an, die Koffer loszubinden und auszuspannen.
Im Türrahmen des Vestibüls erschien eine Frau, die die Présidente sein musste. Sie wartete, die Hände über ihrem Schal gefaltet, bis Raynaud sich aus der Kutsche gequält hatte und zu ihr ging. Gaspard hielt sich im Hintergrund, betrachtete die Frau, in die er bereits geheime Hoffnungen setzte und die ihm unwissentlich weit mehr nützen würde als nur durch ihre Gastfreundschaft. Raynaud beugte sich über ihre zerfurchte Hand. Die Présidente hatte sich in aller Eile etwas übergeworfen, auch wenn das Nachthemd und der Schal nichts zu wünschen übrig ließen in Bezug auf die Anständigkeit, die Gaspard zu Recht von einer Dame ihres Ranges erwarten konnte. Sie wechselte ein paar Worte mit Raynaud, ohne Gaspard zu beachten. Doch während sie, ein Lächeln um die Lippen, mit dem Kopf nickend Raynauds Reisebericht lauschte, musterte sie durch ihre beherrschte Miene hindurch Gaspard, dessen Anwesenheit für das Wohlbefinden des Barons notwendig zu sein schien. Auch wenn er nicht sicher war, ob dieses Gefühl von dem Gedanken an seinen Aufstieg ausgelöst wurde, so rührten ihn doch diese Gesichtszüge, ihre akkuraten Falten. Dieses Gesicht konnte tausend Jahre alt sein, es ließ eine desillusionierte Weisheit erkennen, eine erschöpfte Freude, hinter der man das Vergnügen an der Gesellschaft, dem Schutz vor der Einsamkeit, erkennen konnte. Sie war lang und dürr wie ein Asket. Raynaud hatte behauptet, dass ihre Philanthropie gelegentlich Gesellschaften anzog, die nicht so rechtschaffen waren wie sie selbst. Aber auch wenn sie sich dessen nie rühmte, unterstützte sie großzügig einige Armenhäuser von Paris, und die Verbreitung dieser Wohltätigkeit genügte, um ihre Verleumder zum Schweigen zu bringen. Als Raynaud seinen Reisebegleiter vorstellte, zeigte sie sich aufmerksamer, als er es erhofft hatte, sorgte sich über seine Müdigkeit und ordnete an, dass die Reisenden auf ihre Zimmer geführt wurden. »Die Neuigkeiten aus Paris berichten Sie mir morgen«, schloss sie. Inzwischen waren sie in der Eingangshalle angelangt, wo die Kerzenleuchter nur mit Mühe die hohen Decken zu erhellen vermochten. Liliensträuße verströmten ihre Essenzen, und die Luft war erfüllt davon wie in einem Mausoleum. Außerdem war da dieser Modergeruch, der alten Gebäuden eigen ist, dieses Schwitzen der Steine, eine allgegenwärtige, greifbare Vergangenheit. Als ihn der Baron, ungeduldig, ins Bett zu kommen, zur Treppe drängte, fühlte sich Gaspard durch den Geruch, die vagen Formen der Eingangshalle, die angedeuteten Gesichter und die Stimme der Présidente wie betäubt. Dieses Schloss zu betreten bedeutete für ihn, hinter sich zu lassen, was er gewesen und wovon in einem Winkel seines Bewusstseins noch immer ein Rest übrig geblieben war. Das Drängeln des Greises in seinem Rücken drängte ihn an den Rand eines Abgrunds. Er hielt sich an der Rampe fest, holte Atem. »Sehen Sie zu, dass Sie schnell wieder zu Kräften kommen. Gute Nacht«, sagte die Présidente voll der Liebenswürdigkeit, bevor sie inmitten eines Schwarms von Kammerfrauen verschwand.
Sie folgten der Dienerin in den ersten Stock und durch einen weinroten Flur. Gaspard versuchte zu erkennen, was der Schein der Lampe im Vorbeigehen preisgab, doch die ocker-, bernstein- und kupferfarbenen Töne, die diffusen Gemälde, die in Öl erstarrten Ahnen, verschmolzen ineinander. Der Baron und die Kammerzofe nahmen
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