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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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mehrere Decken hüllte, um sich vor der morgendlichen Feuchtigkeit zu schützen. Er sah zerbrechlich aus auf seiner Bank. Sein Gesicht lugte zwischen Wollstoffen und Pelzen hervor. Lächerlich , dachte Gaspard, bevor er eine Hand auf die von Raynaud legte. Der Wagen setzte sich in Bewegung, und der Baron seufzte bei jedem Rütteln, verfluchte seinen Geliebten, dass er ihn auf diese Reise schleppte, die ihn möglicherweise das Leben kosten würde. »Die Luft ist mild«, sagte Gaspard. Er ordnete die Decken neu, verbarg das Gesicht des Barons vor seinem Blick. »Machen Sie sich keine Sorgen, schlafen Sie ein wenig.« Der Mann schnarchte, noch ehe sie die Stadt verlassen hatten. Gaspard hob mit einem Finger den Vorhang, presste seine Stirn an die Scheibe, um die krapprote Landschaft zu betrachten. Endlos zogen sich die Felder dahin, durchsetzt von grauen Weilern, und verschmolzen in der Ferne mit dem Morgenrot. Die Sonnenblumen ließen ihre Köpfe noch hängen, die Bäume hoben sich als reglose Schatten vom Himmel ab. Da und dort waberten Nebelfetzen über den Boden, die von den ersten Sonnenstrahlen aufgelöst wurden. Gaspard musste an Quimper denken, und eine schreckliche Angst ergriff ihn, als wäre die Droschke unterwegs in die Bretagne und würde nicht früher anhalten, als dass sie ihr Ziel erreicht, ihn zu seiner Heimat zurückgebracht hätte. Aber wie das Eisenerz, das aus dem Boden gezogen und geschmiedet war, hatte er nichts mehr gemein mit der Landschaft. Es war unvorstellbar, dass Quimper real war, dass es existieren konnte, dass Gaspard einst durch seine Straßen gegangen war wie durch die von Paris. Er warf einen Blick auf den Baron. Seine Perücke schimmerte in dem schwachen Morgenlicht wie Kupfer, sein Gesicht wie Wachs. Die Augenbrauen zuckten, die Lippen zitterten pausenlos, die Haut unter den Augen fältelte sich: All das verlieh dem Gesicht einen künstlichen Ausdruck. Der Kopf, der aus dem Haufen Decken hervorragte, schien vom Körper gelöst, eine welke, herausgeputzte Kugel, die im Rhythmus des Schaukelns wackelte. Gaspard fühlte, wie sein Mund trocken wurde, und schluckte mühsam. Er vertiefte sich wieder in die Betrachtung der Wiesen und der Herdentiere, die da und dort mit taunassen Fellen die Landschaft sprenkelten. Dann döste er, die Lider halb geschlossen. Nur ein rotes Leuchten drang von außen hindurch. Wie die Natur ringsum lösten sich ihr Reiseziel, die Kutsche selbst auf, und es blieb nichts als dieser Schein.
    Quimper, rot: Der Morgen ist kalt. Er färbt den Raum, die Geschäftigkeit des Vaters. Gaspard stopft Heu in die Strümpfe, in die Holzschuhe; Frostbeulen marmorieren seine Füße, ziehen seine Nägel auf. Der Ofen stinkt nach Kohle, ein paar letzte Rauchschwaden steigen auf. Auf der Glut steht eine gusseiserne Schüssel, darin Wasser, das nach Steckrüben riecht, in einer Öllache schwimmen ein paar Schweineinnereien. Vater und Sohn ziehen sich schweigend an, tauschen keinen Blick. Die Mutter auf ihrem Weidenstuhl erzählt Fabeln, Ungeheuerlichkeiten. Manchmal hört der Sohn zu, und sie freut sich daran, den Eindruck zu beobachten, den ihre Märchen auf ihn machen. Sein Geist ist noch unschuldig genug, um zu glauben, dass die Niederträchtigkeit anderswo als im Alltag existiert. Der Vater macht die Tür auf. Gaspard folgt ihm, sofort von den Hunden mit ihren verdreckten Fellen eingeholt. Seine Füße versinken im Schlamm, nur mit Mühe zieht er seine Holzschuhe heraus. Der Regen hat die Erde aufgeweicht. Der Geruch der herumjagenden Schweine, ihres Kots, der bis in die mineralischen Schichten eingekrustet ist, steigt auf und setzt die Welt zusammen. Der Boden spuckt seinen Schlamm auf die kalten, harten Waden des Jungen.
    Die Erschöpfung des Barons zwang ihnen eine Pause auf. Sie warteten die Abendfrische ab. Als sie den Weiler in der Nähe von Chartres erreichten, wo die Présidente ihre Ländereien besaß, hatte die Nacht schon die Dicke von Pech. Am Ende eines von Ulmen gesäumten Weges, deren Äste die Finsternis zusätzlich verdunkelten, ragte das gusseiserne Gerüst eines Tores auf. Gaspard hatte auf der ganzen Fahrt Schlaf vorgetäuscht, um jedes Gespräch mit Raynaud zu vermeiden. Er öffnete das Fenster und atmete die Außenluft ein. Es roch nach Gehölz und Humus. Jeder Geruch wäre der beengenden Atmosphäre der Kabine vorzuziehen gewesen, die vom säuerlichen Atem des Barons verseucht war. »Endlich, ich dachte schon, wir kämen nie an. Das machen Sie nicht noch

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