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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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despotisch den ganzen Flur in Beschlag, erdrückten Gaspard, der sich ihren Schritten anpassen musste, und die Euphorie, die ihn bei der Vorstellung eines Landaufenthalts überkommen hatte, löste sich in Luft auf. Vor seinem Zimmer blieb er reglos stehen. Raynaud verschwand im Nebenraum, und die Dienerin fragte: »Wünscht Monsieur noch etwas?« Das Fenster hinter ihr ließ ihren opalfarbenen Teint blass erscheinen. Ihr Akzent klang spöttisch, und er verspürte auf der Stelle einen Groll gegen sie. Gaspard schüttelte den Kopf, stammelte ein Dankeschön und betrat das Zimmer. Es war so groß wie das ganze Apartment des Comte d’Annovres. Nachtdüfte lagen im Raum, der Geruch nach feuchten Mauern. Einige Leuchter höhlten Feuerringe in das Halbdunkel. In einem Becken auf der Frisierkommode dampfte Wasser.
    Gaspard machte einen Schritt nach vorn. Sein Unbehagen wuchs. Im Kamin war vorsorglich ein Feuer angezündet worden, und die Glut knisterte. Da die Luft schlecht war, durchquerte er das Zimmer und öffnete eines der Fenster. Die Nacht strömte herein, und die Vorhänge blähten sich in den leeren, schwarzen Raum. Die Luft leckte sein Gesicht, strömte in seine Lungen, weitete seine Brust. Seine Augen tränten, er trocknete sich die Wangen. Bedeutete die Ankunft in diesem Zimmer nicht die Verwirklichung all seiner Wünsche? Lag in diesem Luxus nicht der Beweis für etwas, das ihm nicht mehr genommen werden konnte? Gaspards Bewusstsein schwebte über seinem kraftlosen Körper; die Nacht brachte seine Klarsicht zurück. Eine Tür führte ins Zimmer des Barons, der Mann klopfte. Gaspard erzitterte, dann verharrte er reglos wie ein Beutetier. Er weigerte sich, sich zu bewegen, den Blick vom Park zu wenden, dessen schweigende Formen er durch das Fenster wahrnahm. Aus einem nahen Wald drang Harzgeruch zu ihm. Der Baron klopfte lauter, mehrmals wurde die Klinge gedrückt. Gaspard rührte sich nicht. Zum Glück war der Schlüssel umgedreht. Er fühlte nichts. Sein Puls blieb apathisch, seine Glieder schwammig, sein Geist im Dämmerzustand. Jedes Zeichen von Lust, ob es vom Baron oder von einem anderen Mann kam, versetzte ihn in eine Art Betäubung. Er blieb lange regungslos stehen, bis er sicher sein konnte, dass der Alte in sein Bett zurückgekehrt war. Am Morgen würde er sich rechtfertigen müssen, dass er seinen Erwartungen nicht entsprochen hatte. Bei dieser Vorstellung schluckte Gaspard, um die Bitterkeit aus seinem Mund zu vertreiben. Dann zog er die Vorhänge zu, die sich wie ein Leichentuch bauschten. Die Glut war erloschen. Hatte er so lange ausgeharrt? Die körperlichen Kontakte, seine Angst davor, lösten in ihm stets diese Momente der Abwesenheit aus, und jedes Mal wunderte er sich über die Verzerrung der Zeit. Bis zum Tagesanbruch blieben nur wenige Stunden, die Erschöpfung von der Reise hatte seine Verzweiflung neu aufleben lassen.
    Gaspard öffnete die Reisetruhen, entkleidete sich, ließ die Baumwolle eines Nachthemds über seine Haut gleiten. Er ging zur Frisierkommode, setzte sich vor das Wasserbecken und nahm seine Perücke ab. Vor ihm erschien sein Spiegelbild, vom Kerzenlicht gelb getönt. Der Schweiß klebte seine Haare am Schädel fest. Die eingefallenen Wangen unter den geröteten Augen umrandeten einen unförmigen Mund. Er sah einen Fremden; dieses Gesicht trug die Hässlichkeit seiner Existenz in sich. Jede Parzelle der Haut, jede Ablagerung von Fett, jede Pore drückte die Lüge aus, die Opfer, die Verleugnungen, die nötig gewesen waren, um in dieses Zimmer zu gelangen. Zornig fing er an, sein Gesicht mit einem Leinentuch zu reiben, um seine Haut von der Schminke zu befreien. Mit dem Erscheinen der geröteten Haut enthüllte sich sein wahres Gesicht, fiel die Maske zusammen. Gaspards Pein wich einem vertrauten Gefühl, dem er keinen Einhalt gebieten konnte. Es war der Abscheu vor seinem Fleisch, vor sich selbst. Der arrivierte Gaspard hatte sich aufgelöst, das, was vom ursprünglichen übrig geblieben war, betrachtete sich mit Ekel, sah sich als eine Entartung. Eine Ungeheuerlichkeit.
    Er legte das Leinentuch ins Becken. Das Wasser trübte sich. Wieder betrachtete er seine Haut, seine entzündeten Lippen. Zorn und Abscheu waren nur größer geworden, sie lähmten seine Glieder, hallten in seinem Schädel wider. Die Kiefermuskeln spannten die Haut seiner Wangen. Sein Blick fiel auf die Frisierkommode. Auf dem Palisander- und Mahagoniholz unter dem Spiegel lag ein Glassplitter von der Größe

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