Die Erziehung - Roman
Gedanken an Quimper flackerte seine Panik erneut auf, amarantrot. Eine Kakerlakenschar raschelte in der Dunkelheit über die Wände. »Fliehen, fliehen«, wiederholte Gaspard in seinem Wahn. Er hatte die Idee von einer Welt jenseits von Paris und Quimper, aber es war eine absurde Vorstellung. Jede kleinste Einzelheit im Verschlag, in dem er ausgestreckt lag, vibrierte wie eine Stimmgabel, und sein Körper wurde in einer Geste der Ablehnung von Krämpfen geplagt. Dann, nach und nach, ging es vorüber. Erschöpft und keuchend fühlte Gaspard, wie ihn mit rauschhafter Betäubung der Schlaf aufnahm. In einem letzten Aufbäumen des Bewusstseins zog Gaspard Quimper vor.
Das Zimmer neben dem von Lucas wurde frei. Man hatte den Mieter, einen Möbeltischler, aufgehängt an einem Balken gefunden, das Gesicht blau verfärbt, der Körper steif wie ein Schaft. Der Gestank hatte den Eigentümer alarmiert, der schäumte, weil ihm auf so törichte Weise beinahe zwei Wochen Miete entgangen waren. Der Selbstmörder hatte darüber hinaus ein letztes Häufchen auf dem Boden hinterlassen. Man hatte lange gescheuert, doch auf dem Holzboden war ein Fleck zurückgeblieben, ein posthumer Fingerzeig an den geizigen Vermieter, der noch tagelang gegen inkontinente Lebensmüde wetterte. »In Paris bringen sich viele um«, sagte ein Nachbar mit der Miene von einem, der Bescheid wusste.
Gaspard bot an, das Zimmer zu übernehmen. Er würde sich mit dem Fleck abfinden. Man einigte sich auf sechshundert Livres monatlich, was nicht viel war, aber auch nicht belanglos. Der Raum grenzte an einen Abort, eine verschlammte Grube, deren Entleerung man gerne vergaß. Von einer Luke in der Wand fiel schräges, trübes Licht herein. Jeden Morgen erhob sich Gaspard in der bleichen Dämmerung, klopfte an Lucas’ Tür, um ihn zu wecken, wusch sich das Gesicht in einem Eimer mit nachtkühlem Wasser, streifte ein Hemd über, eine verbeulte Hose, Schuhe – oder das, was von ihnen übrig geblieben war –, und schluckte eine Brühe aus einem dutzendmal aufgebrühten Kaffeesatz hinunter. Dann begab er sich in die Eingeweide von Paris. Die Seine verschlang ihn, um ihn allabendlich wieder ans Ufer zu spülen, in die staubige Luft und das Rot der Dämmerung. Ein Tag glich dem anderen, ohne dass es Gaspard gelang, diese bleichen Kopien voneinander zu unterscheiden.
Abends tranken Lucas und er manchmal ein paar Krüge Wein, wie am ersten Tag ihrer Begegnung. Doch die Anekdoten über ihre trostlose Kindheit waren bald erschöpft. Nur der Fluss sorgte noch für neue Gespräche: Eine Frau hatte sich von einer Brücke geworfen, ein Mann war ins Wasser gefallen, ein Streit in eine Schlägerei ausgeartet, die Polizei zum Fluss heruntergekommen, um Bettler und ein paar Diebe einzukerkern. In den Schenken wurde über all dies geredet, und dabei blieb es meist. Die Langeweile schwebte über ihren Köpfen, die Gesten wiederholten sich bis ins Unendliche. Gaspard konnte inzwischen die Namen mit Gesichtern verbinden, bald grüßte man ihn auf der Straße, die Männer klopften ihm auf die Schulter. Mädchen begehrten ihn, fanden ihn hübsch, sahen in ihm die Aussicht auf einen guten Erzeuger. Sie machten Bemerkungen über seine Männlichkeit und versteckten ihre Worte hinter Gekicher. Er lief, ohne jede Erwartung, durch die mit zerlumpten Gestalten bevölkerten Straßen.
Von der ersten Nacht bei Lucas war in Gaspard ein Unbehagen zurückgeblieben. Die Panik, die ihn an jenem Abend befallen hatte, war noch da, wenn auch nicht mehr so ausgeprägt. Die Zeit hatte die Empfindung geschwächt, sie war abstrakt geworden, in Gaspards Unterbewusstsein verbannt, und schon bald dachte er nicht mehr daran. Die mechanische Aufeinanderfolge der Gesten, die Unerbittlichkeit der Tage erstickten jeden Ansatz eines Gedankens, zumindest in Gaspard, der für die in den Niederungen von Paris spürbare Spannung unempfänglich war. Der Bauch von Paris hatte Hunger. Gaspard hatte Hunger, und dieser Hunger stumpfte ihn noch ein bisschen mehr ab, genauso wie die Hitze, das schlammige Dahinplätschern des Alltags. Er suchte jedoch für diesen Zustand keinerlei Ursache und reagierte auf die Gerüchte, die kursierten, mit Gleichgültigkeit. Was hatten die Artikel in den Zeitungen schon zu sagen? Einzig was sein Körper empfand, ergab einen Sinn für ihn, und die Unzufriedenheit, die aus ihm hervorging, blieb ihm unverständlich, eine Tücke der Stadt. Seine Existenz ertrank im Schlamm der Seine. Sein Atem
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