Die Erziehung - Roman
stank nach Schlick. In seinem Bauch knurrte der Fluss. Alles war anthrazitfarben, im Ton von feuchtem Schiefer. Gaspards Geruchssinn begann abzustumpfen. Der Gestank der Gassen stieß ihn nicht mehr ab, auch nicht die Pestilenz der schwärenden Körper, dieser Mief, mit dem sein Körper durchtränkt war. Am liebsten blieb er in seinem Zimmer. Ausgestreckt in einem Sarg aus Staub, starrte er auf die Luke, durch die das Licht hereinfiel, während unter ihm das Gebäude knackte und knisterte wie ein Rebzweig im Feuer. Die Türen öffneten sich wie die Lippen einer Wunde auf finstere Verschläge, in denen man dahinvegetierte, und überall auf den Stockwerken fluchten erbärmliche Existenzen um die Wette.
Zahllose Kinder rannten wild durcheinander, purzelten die Treppen hinunter, wühlten in den Abfallhaufen, bald wieder eingefangen von ihren Erzeugerinnen, die sie an den Windeln ergriffen und mit kräftigen Schlägen auf den Hintern hinaufscheuchten. Von einem Privatleben keine Spur. Man trieb es vor aller Augen, die Hände ans Geländer geklammert, die Unterröcke ungeniert über die Ärsche geschoben, dass die Wände zitterten. Man vergnügte sich ungeachtet der Kinder, der Nachbarn. Man kackte, unter einer Symphonie von Fürzen, direkt auf den Treppenabsatz. Man bestrafte seine Frau mit Gürtelhieben, man ging bei dem einen ein, bei dem anderen aus, man schrie bei Tag und bei Nacht genauso hemmungslos. Vor allem beobachtete man die anderen, man heftete ein inquisitorisches Auge auf sie, gierig auf den Tratsch, der wie ein Lauffeuer das Netz der Megären versorgte. Das Leben musste ausgestellt werden. Eine entweihte Stätte, zu der man den Nachbarn herbeirief, um seine schmutzige Wäsche zu waschen, etwas, was unweigerlich mit bissigen Streitereien endete, mit Faustschlägen ins Gesicht, wüsten Bespuckungen, Beschimpfungen.
Gaspard lernte seine Nachbarn nach und nach kennen und manchmal gar schätzen, die Resnais’, Cabrols, Tissandiers aus dem ersten Stock, die Martins, Charons, Auberts, Grenelles aus dem zweiten – und all die anderen Sippschaften, die auf jedem Treppenabsatz wie Schwalbenschwärme nisteten. Niemand erinnerte sich mehr genau an den Namen des Möbelschreiners, doch befürchtete man, der Ort bringe Unglück. Sie warnten Gaspard; auch er würde als Junggeselle enden, an einem Strick baumelnd, wenn er sich keine Frau nehme. Man erhob mahnend den Zeigefinger. »Das ist kein Leben, ständig zu den Mädchen zu laufen!«, sagte die Alte aus dem dritten, wenn sie ihn die Stufen herunterkommen sah, nach einem muffigen Kölnischwasser stinkend, das von einem zweifelhaften Parfümeur am Flussufer verschleudert wurde. Doch Gaspard lehnte beharrlich ab, wenn Lucas den Kopf zur Tür hereinstreckte: »Los, alter Knacker, lass dich ein wenig auf andere Gedanken bringen.« Oft verließ ihn nach beendigtem Tagwerk die Kraft, und er fand gerade noch die Energie, etwas zu sich zu nehmen, bevor er sich auf die Strohmatte fallen ließ. Dann starrte er stundenlang auf die Luke und später, wenn die Nacht hereingebrochen war, auf das langsame Zerfließen einer Kerze, bis ihn der Schlaf einholte.
Er hatte den Roman eines Marquis gekauft, der unter dem Ladentisch weitergegeben wurde, ein Buch von aufrührerischer Philosophie, mit orgiastischen Stichen. Dies war seine einzige Ausschweifung. Nicht dass er ein anderes Bedürfnis als das nach einem Erguss gehabt hätte – nie war ihm ein fremder Körper als ein möglicher Adressat seiner Begierden erschienen –, doch in diesen seltenen Augenblicken entriss der überwältigende Strom Gaspard seiner Existenz, überließ ihn einer sinnlichen Wollust. Das Buch schloss sich über seinen Fingern, das aquarellfahle Fleisch streifend. Die Ekstase machte ihn glücklich, ließ ihn erahnen, dass ein anderer – erfüllender – Zustand existierte, jenseits seines erbärmlichen Lebens. Doch schon während er wieder zu Atem kam, verflüchtigte sich die Ahnung, und die kurze Leidenschaft, die die Papierfiguren entfacht hatten, verblasste rasch, ließ nichts als ein wenig Samen zurück, den er, bereits auf seinem Bauch erkaltet, mit einem Stoffzipfel wegwischte. Dann wurde er von einer vagen Traurigkeit erfasst, von dem Gefühl, diesen Genuss zu schnell aufgezehrt zu haben, und schlief schweren Herzens ein.
Die Seine suchte auch seine Nächte heim. Immer wieder tauchte sie hinter der Biegung eines Traums auf, schwarz, unerbittlich. Er schreckte aus dem Schlaf hoch, der Schweiß strömte
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