Die Erziehung - Roman
mehr Talent und weniger Aufhebens zu handhaben verstand. Ihm war nicht bewusst, dass am Abend vor ihrem Tode der Duc de Rangis durch das halb offene Fenster zwischen die tanzenden Vorhänge geschlüpft war, während sie ihn schlummernd, beinahe nackt und aufreizend in ihrem Satinbett erwartet hatte. Er wusste nichts von dem Schatten, fürstlich bezahlt von der Duchesse de Rangis, die ihren Gemahl verfolgen ließ und über alles informiert war und die jedes Ohr und die besten Giftmischerinnen von Paris kannte. Er wusste nicht, was man mit seiner ehebrecherischen Gemahlin angestellt hatte. Welches Gift man zwischen ihre Lippen geträufelt hatte, als sie, die vermeintliche Unschuld in Person, vor sich hinträumte. Hätte Monsieur das Resultat der Obduktion seiner Frau abgewartet, die offen wie eine Auster auf dem Tisch eines Gerichtsarztes lag, während er ziellos durch die Straßen irrte, vielleicht hätte er seine Wertschätzung noch einmal überdacht, und sein Kummer hätte nachgelassen. Vielleicht hätte er seine Pläne etwas nachgebessert. Bestimmt wäre er zum Schluss gekommen, dass es, wenn eine Lage aussichtslos erscheint, irgendwo noch andere Perspektiven gibt, andere Lösungen. Doch Monsieur war blind vor Trauer. Er überquerte den Pont Royal und kletterte das Geländer hinunter. Schon ließ er sich hinabfallen in die Tiefe, und wie eine kleine Wattewolke folgte ihm seine Perücke durch die feuchte Luft. Monsieur brach sich den Hals auf dem kalten Wasser, trieb dahin, während man sich auf der Brücke versammelte und nach seiner Leiche Ausschau hielt. Einzig die Perücke wurde augenblicklich herausgefischt, eine jämmerliche parfümierte Meduse. Der Rest von Monsieur Legrand, die Gesamtheit seiner Person, trieb auf die Ile de la Cité zu, noch unentschlossen, welche Richtung sie einschlagen sollte.
Gaspard hatte sich die Routiniertheit angeeignet, die seine immer gleiche Aufgabe erforderte. Tauchen, orten, aufspringen, schneiden, anpacken, abschleppen, ablegen. Der Vorteil dieser gleichförmigen Abfolge war, dachte er, dass sie jeden Gedanken verscheuchte. Gaspard wollte sich mit keinen Fragen, keiner Philosophie herumschlagen. Als der Körper auf ihn zutrieb – wie noch ein paar Monate zuvor der Kopf des Säuglings –, betrachtete er dieses Ereignis als langweilige Zerstreuung. Lucas hatte ihn gewarnt: Die Männer fanden oft Überreste, die die Anatomen und Medizinstudenten auf den Friedhöfen entwendet hatten. Arme, Beine und alle möglichen Gedärme schwammen dann in der Flut. Das gehörte nun mal zur Arbeit, doch Gaspard, obwohl inzwischen gestählt, hätte gut auf die Ablenkung verzichten können. Die Leiche schwamm auf dem Bauch, das Gesicht den Mäandern des Flusses zugedreht, die grauen Haare einer trägen Anemone gleich. Das Wasser plätscherte an die Haut wie an ein schmutziges, rosafarbenes Ufer. Gaspard packte den Toten an der Schulter und drehte ihn um. Der Mann schwappte hin und her, noch von Luft angefüllt. Er starrte mit schiefem Blick zum Himmel, die Nase war gebrochen und zeigte schräg auf einen hervorspringenden Wangenknochen. Der dünne Ansatz eines sorgfältig rasierten Bartes umgab den Mund, erstreckte sich über den Kiefer. Unter dem Gehrock trug der Mann eine Jacke aus Goldbrokat, ein Hemd aus plissiertem Satin, eine sich bauschende Pluderhose und lederne Schnallenschuhe.
Lucas erreichte Gaspard, noch bevor sie von den anderen Männern umstellt wurden, denen bald die Schaulustigen vom Ufer folgten. Schreie ertönten: Ein Bürgerlicher war ertrunken, die Sache erregte Aufsehen. Ein Junge stieg ins Wasser, versuchte ein Goldarmband vom Handgelenk der Leiche zu stehlen. Lucas stieß ihn zurück, packte die Leiche unter den Achseln und zog sie ans Ufer. Gaspard spürte, wie die Sonne auf seinem Gesicht brannte. Das Wasser war trügerisch, es reflektierte das Weiß des Himmels und führte zu schlimmen Verbrennungen. Er musste seine Haut mit Schlamm bedecken – wie die Schweine, wenn sie in der seltenen Sonne von Quimper schwitzten –, um sich zu schützen. Als die Leiche auf der Böschung lag, verjagten die Männer dutzende Gaffer, die durch den Schlamm angewatet kamen, um besser sehen zu können. »Scheiße!«, zischte Lucas und trat den Bourgeois mit dem Fuß. Gaspard versuchte, seinen verärgerten Blick zu deuten. Er verstand nicht, warum der Tod eines Mannes lästiger war als die Entdeckung eines Kinderkopfes. Lucas antwortete, als hätte Gaspard seine Gedanken laut
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