Die Erziehung - Roman
begrüßte. Männer und Frauen unterhielten sich in einem Stimmengewirr, in dem bisweilen Gelächter und Schreie aufflackerten. Die Frauen zogen ihre Schals und Umhänge fest um die Hälse. Die Wangen röteten sich in dem peitschenden Wind. In der Ausgelassenheit, die der Aufführung vorausging, wagten sich die Zuschauer unter dem Vorwand der Kälte, dem Deckmantel der Geselligkeit einander anzunähern, sich mit dem Ellbogen anzustoßen, was die Stimmung anheizte. Ringsum flog das Laub in Spiralen auf, um wütend über den Platz zu fegen. Gaspard ließ seinen verblüfften Blick über die Fassade wandern. Sie schien sich ihm entgegenzuwölben, ihren Bauch einzuziehen, um ihn unter sich zu begraben. Er betrachtete die korinthischen Säulen und die großen Fenster. Hinter den Scheiben meinte er Silhouetten und bauschige Kleider zu entdecken. Statuen aus Bronze schmückten die Fassade, umgeben von zwei Allegorien aus Stein, den Musen der Musik und der Dichtkunst. Nachdem sie ein paar Minuten unter ungeduldigen Rufen gewartet hatten, betraten sie ein Vestibül, aus dem mächtige Marmorsäulen hervortraten. Die Lüster an den Decken forderten an ihrer bedrohlichen Hängevorrichtung die Schwerkraft heraus. Von den Kerzen lösten sich Wachstropfen, verfingen sich in den Perücken oder liefen wie Guano über die Schultern. Ein fahles Licht enthüllte die Gemälde, den Stuck und die Zierleisten, um schließlich auf die Gesichter zu regnen. Hier rückte man noch enger zusammen. Die Kälte, die von außen eindrang, schlug auf die Nacken, während ein feuchter Atem in die Höhe stieg.
Im Korridor, der zu den Logen führte, breitete sich dagegen die Hitze aus, Männer wie Frauen fächelten sich höflich Luft zu, während sie darauf achteten, gesehen zu werden und sich nichts von dem Schauspiel entgehen zu lassen, das die Nachzügler boten. Eine Dame überholte sie im Laufschritt, ihr Kleid raschelte über den Mosaikboden. Ihr Parfüm zog sie wie eine hauchdünne Schleppe hinter sich her. Die bunten Fresken reizten das Auge mit so vielen Farben, dass Gaspard ihre Formen kaum erkennen konnte. »Hier ist es«, zeigte Etienne und betrat eine Loge. »Ausgezeichnet, wir sind die Ersten, gut platziert darüber hinaus.« Gaspard folgte ihm. Eine Hitzewelle rollte über sie hinweg. Er näherte sich dem Balkon, legte die Hand auf das Geländer. Er taumelte. Die Leere unter ihm war bedrohlich. Der Raum bewegte sich in einer blutroten und ockergelben Brandung auf und ab. Die Vorhänge und der Samt der Sessel erweckten den Eindruck eines gargantuanischen Stoffbauches. Die Lichter rollten in dumpfen Wellen über das Gewimmel der Zuschauer hinweg. Gaspard suchte nach Luft, es schien, als stürzten sich all diese Stoffe, all diese Farben, all diese miteinander vereinten Atemzüge in ihn hinein, um ihn zu ersticken. Man seufzte, man litt, flehte, die Türen oder Fenster zu öffnen, man wünschte den Windstoß zurück, der die Leute in die Eingänge gepresst hatte. Der Kontrast zu der unerbittlichen Kälte draußen setzte einem zu, und die Energie der Körper brachte die Temperatur im Saal übermäßig zum Ansteigen. Etienne ließ sich nonchalant auf einen Sessel nieder. Gaspard rang nach Luft. Die Leute hätten besser geschwiegen und nicht noch mehr Sauerstoff verbraucht, doch sie schienen geradezu zu schwelgen in der Vereinigung ihres Schweißes. Der Gestank der Oper war betäubend. Ein unbeschreiblicher Geruch stieg zu Gaspard auf, ein Amalgam aus Puder, Parfüms, Schweiß von den Sesselpolstern, lackiertem Holz, Kerzenwachs, Ausdünstungen aus erhitzten Kehlen. Gaspard schaute in die Rangloge unter sich. Sie wurde von Karyatiden getragen, die es erlaubten, sich zur Bühne vorzubeugen. Der Olymp über ihm gewährte nur den Blick in einen Abgrund, eine dürftige Annäherung, dort oben tummelte sich der Pöbel, ein unkenntlicher Taubenschwarm. Und plötzlich formte sich an diesem Himmel, den er verblüfft betrachtete, ein Tropfen, fiel auf seine Wange unter dem Auge und rollte wie eine Träne zum Kinn hinunter. Gaspard wischte ihn ab, senkte die Augen und zerdrückte das Öl zwischen Zeigefinger und Daumen, als Etienne ihm etwas zurief. Das Ehepaar d’Annovres war in Begleitung seiner Tochter eingetroffen.
Der Graf war ein unscheinbarer Mann mit fliehenden Wangen, die den Kieferrand betonten. Er trug einen grauen Anzug, nach der Begrüßung setzte er sich. Seine Frau fächelte sich ungestüm das Gesicht, warf dabei ihre extravagante Perücke in
Weitere Kostenlose Bücher