Die Erziehung - Roman
ein Feuer in einem Kamin, ohne den Raum wärmen zu können, und Gaspard fröstelte. Madame d’Annovres setzte sich neben ihn, Monsieur Merlot gegenüber, dem zur Linken Monsieur Lindon folgte, dessen eingesunkenes Gesicht Mitleid erregend war. Bald servierten die Hausangestellten jedem einen Teller mit Foie gras, getoastetem Brot und Morchelfrikassee. Adeline setzte sich ans Ende des Tisches. Gaspard versuchte seine Angst zu beschwichtigen, die Gewissheit, sich lächerlich zu machen. Er spürte Adelines anklagenden Blick auf sich gerichtet, die jedoch in ein Gespräch mit Madame Saurel vertieft war. Er fühlte sich von den anderen Gästen beäugt, bestimmt erwarteten sie, dass er sprach, Leichtigkeit unter Beweis stellte, seine Anwesenheit an diesem Tisch rechtfertigte. Zu seiner Rechten glänzte der in Kaschmir gezwängte Busen von Madame d’Annovres im Licht der Kronleuchter. »Wir waren gestern in der Opéra-Comique, wo ein Stück von Marivaux gegeben wurde; es war ein äußerst angenehmer Abend, nur leider viel zu heiß«, versuchte sie das Gespräch in Gang zu bringen. Madame d’Évilly, deren Hals unter weißem Spitzenschaum verschwand, seufzte: »Ich beneide Paris um seine Zerstreuungen, doch gestern litt ich an einer schrecklichen Migräne und konnte Sie nicht begleiten. Ich brachte nicht einmal die Kraft auf, meine Korrespondenz zu erledigen.« Ihr Gesicht war fleischig, die Wangenkochen durch Rouge hervorgehoben. »Wir befanden uns in vorzüglicher Gesellschaft, da sich der Comte de V. und sein junger Freund zu uns gesellt haben. Sie werden mir eingestehen, dass wir vielleicht gar keinen schlechten Tausch gemacht haben«, fügte die Comtesse hinzu. Sie brüskierte Madame d’Évilly und freute sich sichtlich darüber. Man unterhielt sich über die Theater der Hauptstadt, dann über die Comédie-Française, für die sich der König interessierte. »Man zieht dort die italienischen Komödien vor«, bemerkte Monsieur Lecat. »Marivaux gehört mit Sicherheit nicht zu den Lieblingen des Hofs«, sagte Saurel. »Ich für meinen Teil finde das Theater langweilig«, rief seine Frau aus, deren Perücke sich so hoch türmte, dass sie jeden Augenblick in ihren Teller zu stürzen drohte. »Ich ziehe einen guten Wein und eine ausgezeichnete Mahlzeit unter Freunden, wie wir es hier haben, vor.« Man applaudierte, stieß noch einmal an. »Ach«, kommentierte Madame d’Annovres, »Sie werfen da eine Frage auf, die etwas Aufmerksamkeit wohl verdient. Ich finde, Freunde sind rar, und wenn man viele Bekanntschaften hat, ist es schwierig, sie wirklich zu kennen. Ich sehe an diesem Tisch etliche Kameraden, wie viele aber sind Freunde?« Zum ersten Mal ergriff der Comte d’Annovres das Wort: » Kameraden , sie spricht ja wie ein Militär!« Gelächter folgte, während die Bediensteten von Neuem die Weingläser füllten und die Teller abräumten, um den nächsten Gang aufzutragen. Gaspard hatte genau beobachtet und versucht, jede Geste nachzuahmen, was ihm wohl gelungen war, denn Etienne hatte ihm noch keine Zeichen gemacht. Schon allein die Vorspeise hatte seinen Appetit gestillt, und er fühlte sich unfähig, noch einen weiteren Bissen zu sich zu nehmen. »Was haben Sie denn gegen die Militärs?«, fragte Merlot, der den Degen am Gürtel trug. »Madame hat nicht Unrecht, es ist nicht einfach, den Menschen auf den Grund zu gehen, aber im Kampf lernt man das schnell.« Die Verteidigung entzückte die Comtesse: »Sehen Sie! Dies war, wohlgemerkt, keineswegs eine Anschuldigung, ich mag das Geheimnis. Muss man es im Übrigen nicht mögen, wenn man Etienne de V. an seine Tafel bittet?« Wieder wurde gelacht, denn der Ruf, der ihm vorausging, ließ niemanden gleichgültig. Alle Blicke richteten sich auf den Comte. Gaspard fühlte sofort, wie sich seine Wangen röteten. »Bewahret mein Geheimnis, ihr, die ihr durch dasselbe bewahret seid, wie Salomon so schön sagt«, erwiderte Etienne. Die Gäste stimmten zu, doch es war greifbar, dass alle gerne etwas Licht in diese Finsternis gebracht hätten, die den überwältigenden Charme des Comte ausmachte. Er wechselte das Thema, während die Bediensteten eine Silberplatte brachten, die Glocken über dem dampfenden Kapaun hoben. »Da wir schon bei militärischen Erwägungen sind, Monsieur Merlot, wäre ich neugierig zu erfahren, wie Sie den Zustand unserer Marine in unserem gegenwärtigen Krieg beurteilen.« Er hatte ins Schwarze getroffen. Sogleich fing der Schnurrbart des Mannes an zu
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