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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Tränen? Er ist schließlich nur ein Junge. Wenn ich daran denke, ist es vielleicht das, was Sie so eifersüchtig macht? Sollten Sie vielleicht gar eine Schwäche für Ihren Lehrling haben, Meister?« Gaspard sah das rot angelaufene Gesicht des Handwerkers vor sich. »Es reicht! Ich erlaube es Ihnen nicht. In diesem Haus gibt es Regeln, und ich gestatte nicht, dass man sie ohne meine Zustimmung übertritt. Seien Sie ein guter Kunde, dann bin ich Ihr Diener. Doch wenn Sie meinen Gesellen zum Laster treiben wollen, dann …« – »Muss ich Sie«, unterbrach ihn der Graf mit inzwischen verärgerter Stimme, »wo schon einmal von Laster die Rede ist, daran erinnern, wie sehr ich Ihnen einst half, die ihrigen zu befriedigen, indem ich Sie in die besten Häuser von Paris einführte? Geschah das nicht, wie Sie gelobten, unter der Bedingung, dass Sie sich revanchieren würden? Sie haben vielleicht ein kurzes Gedächtnis, Billod, aber für mich gilt das nicht. Ich habe genug in der Hand, um Sie zu überführen, und ich werde mich nicht zurückhalten.« Die Stimme war erloschen, ein Quaken folgte, als Billod seine Ehre zu verteidigen suchte. »Mich überführen! Mich, der ich an Ihre Freundschaft glaubte? Das ist nun der Dank dafür?« Gaspard ahnte, dass sich Etiennes Hand auf Billods Schulter gelegt hatte. »Sind Versprechen nicht dazu da, gebrochen zu werden? Freundschaft, Billod, ist ein Gefühl, das mir fremd ist, das ist etwas für Gimpel, für Dichter von Groschenromanen. Halten wir uns an das, was den Lauf der Welt aufrechterhält, die Scheinheiligkeit und die Mondänität. Was Ihren Protegé betrifft, so betrachten Sie ihn in Zukunft als den meinen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie ihm seinen Platz bewahren und abgesehen davon die Augen schließen. Seien Sie versichert, dass unsere Beziehung auf diese Weise die beste sein wird.« Als die erste Stufe unter einem Schritt knackte, verzog sich Gaspard ans andere Ende des Raumes und machte sich an den Perücken zu schaffen. Seine Hände zitterten heftig, kalter Schweiß lief ihm zwischen seinen Schulterblättern den Rücken hinunter. So war also Billod, wie er es von Anfang an vermutet hatte, durch ein frivoles Arrangement an Etienne gebunden. Jetzt benutzte der Comte ohne jegliche Gewissensbisse eine vergangene Komplizenschaft, um ihn der Autorität seines Meisters zu entziehen: Gaspard spürte einen stummen Zorn gegen Etienne, dass er ihn skrupellos ignoriert, ihn gezwungen hatte, das Ende ihrer Beziehung und selbst seinen Tod in Erwägung zu ziehen, aber auch, dass er Billod manipulierte, ihn verriet. Doch die Erleichterung über seine Rückkehr machte ihn über alle Maßen froh. Es beglückte Gaspard, von der Grausamkeit zu hören, zu der Etienne ihm zu Gefallen fähig war. Zwischen diesen Emotionen hin- und hergerissen, hatte der Lehrling Billods Eintreten nicht bemerkt und schrak zusammen, als dieser neben ihm hustete. Seine Mouche stach deutlich von seinem fahlen Teint ab. Die Lippen verschwanden in seinem zugekniffenen Mund. Er musterte seinen Schüler wütend, erniedrigt, stürzte dann in den anderen Raum der Werkstatt, knallte die Tür zu und verbarrikadierte sich. Gaspard begriff, dass Etienne wieder gegangen war, ohne nach ihm zu fragen. Sofort packte ihn die Angst, ihn erneut zu verlieren. Er stürzte ans Fenster. Der Wagen des Comte stand noch da. Etienne hatte eben den Schlag geöffnet. Er setzte einen Fuß auf das Trittbrett, schaute zum Atelier empor, entdeckte Gaspard, seinen flehenden Blick, und begnügte sich damit, ihn mit der Hand zu grüßen. Er verschwand in der Droschke, die sich sofort in Bewegung setzte.
    Als Billod beinahe eine Stunde später wieder erschien, übersah er Gaspard geflissentlich, legte den Schlüsselbund auf eines der Regale, schloss das Atelier und ging schweigend in seine Wohnung hinauf. Der Lehrling wäre am liebsten im Fußboden versunken. Er wartete, bis die Tür im zweiten Stock ins Schloss gefallen war, und ließ sich dann mit dem Rücken zur Wand zu Boden gleiten. Spürte er Erleichterung oder eher Leere, ohne jede Emotion? Der Nachmittag verging, ohne dass er sich von der Stelle rührte. Er schlief ein wenig, wachte ganz benommen auf, versank wieder in Gedanken, malte sich Etiennes Wiederkehr aus. Bestimmt würde er ihn schon bald aufsuchen. So jedenfalls hatte er die belauschten Worte ausgelegt. Etienne hatte in wenigen Sätzen eine unerwartete und möglicherweise abscheuliche Facette seiner Persönlichkeit offenbart.

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