Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
Analphabeten zu denken anfangen. Man stachelt das Bewusstsein auf. Am Hof sagt man ganz richtig, dass dies willkommene Ventile sind und dass sich das Volk, wenn es sich hier austobt, beruhigt und nichts weiter verlangt. Der Staatssekretär sorgt indes dafür, dass die auffälligsten Diskussionsstätten geschlossen werden.« Die königliche Macht war für Gaspard ein abstrakter Begriff, und Etiennes Worte machten ihn ratlos. Der Graf hingegen schien sich zu gefallen in seinen Betrachtungen, gelassen fuhr er fort: »Noch beunruhigt sich niemand. Der Adel gehört nicht zu den Einrichtungen, die sich über ihre Endlichkeit Sorgen machen. Er meint, nur zu besitzen, was ihm zusteht, und um den Rest der Welt kümmert er sich nicht, er vergisst gar, dass er von ihr abhängt. Der Aristokrat ist blind und träge. Heißt es nicht, dass jedes Ding seine Zeit hat? Man muss Geduld aufbringen. Der Mensch ist langsam, klarsichtige Momente sind selten. Sie wundern sich bestimmt, dass ich mich eher amüsiere als beunruhige, obwohl ich selbst zum Adel gehöre? Das hat mit meiner Philosophie zu tun. Ich finde mich mit allem und zu jeder Zeit ab. Ich bin Epikureer, vielleicht auch amoralisch. Sollte ich morgen ruiniert sein, werde ich in Paris oder anderswo genug Unterhaltung finden. Das Leben ist nun einmal so, dass es immer Starke und Schwache, Reiche und Arme geben wird. Es kommt einzig darauf an, dass man in seinem Jahrhundert zu leben, sich etwas Unterstützung zunutze zu machen versteht. Ich bin von Geburt an zur Faulheit bestimmt. Sie werden heute Abend diese herrliche Masse des Pariser Adels sehen, zu einer Vergnügung versammelt, jene, die sich nicht um ihren Lebensunterhalt kümmern müssen. Die Masse der Masken. Sie geben ein faszinierendes Studienobjekt ab, das Sie einiges über die menschliche Gattung lehren wird, das genauso spannend ist wie die Beobachtung der Armen. Vielleicht zeichnet sich ein vollkommener Mensch dadurch aus, das er im Laufe seines Lebens mit all diesen Extremen verkehrt, die Welt genauso kennt wie sich selbst. Danach strebe ich, und dahin will ich auch Sie führen.« Gaspard stimmte lebhaft zu. »Ich werde lesen, mich bilden. Ich werde lernen, ich verspreche es Ihnen.« Etienne lächelte in die fahlgelbe Dunkelheit hinein.
    Quimper, fahlgelb: Er hat es geschafft, vom Hof loszukommen, und marschiert auf die Stadt zu. Der Vater ist für den ganzen Tag weggegangen. Genau in diesem Augenblick ist Gaspard aufgewacht. Er hat sich aus dem Haus geschlichen, sobald das Gespann sich in Bewegung gesetzt hatte, und läuft nun mit energischem Schritt durch das Morgengrauen. Die wieder eingeschlummerte Mutter hat er zurückgelassen. Da sie nicht allein aufstehen kann, muss er jeden Morgen ihren schlaffen Körper umfassen, sie aus den Laken emporhieven, über den Abortkübel halten. Die aschfahle Haut reibt an seiner, ihr Geruch umhüllt ihn. Ihr Gesicht ist vom Schlaf aufgequollen, stützt sich auf seinen Hals. Gaspard hält sie unter den Achseln, während ihr Urinstrahl in den Blechtopf prasselt und auf ihre Schenkel spritzt. Dann setzt er sie in dem einzigen Raum neben den Herd, wischt sie notdürftig ab. Er weiß, dass sie seinetwegen den ganzen Tag dort sitzen bleiben wird. Doch die Abwesenheit des Erzeugers ist selten und kostbar. Gaspard geht, bis er die dunkle, willkürliche Ansammlung der Stadt erreicht. Hier kennt er einen Mann, einen alten Gelehrten, der nach Bedarf die Grundkenntnisse der französischen Sprache unterrichtet, von fremden Zivilisationen erzählt, von jahrhundertealten Legenden. Der Vater verachtet das Wissen. In Gaspards Augen ist es die einzige Möglichkeit, von seinem Vater loszukommen. Die Schläge dafür nimmt er in Kauf, sie halten ihn nicht davon ab, auf Quimper zuzugehen. Er betet, dass seine Mutter sich nicht beschmutzt während seiner Abwesenheit. Dass sie sich nicht vom Fleck bewegt, die Glut als einzige Zerstreuung, und vor allem, dass sie den Mund hält.
    Vor den Eingängen zur Oper drängten sich die Zuschauer, während der Wind durch die drei großen Portale fegte. Über den Türen warfen die Fackeln ihre Schatten an die Wände. Im Innern belebten die Leuchter das Gebäude mit einer roten Seele. Hinter den Fenstern im ersten Stock, durch Säulen voneinander getrennt und von Bögen überragt, schimmerten Vorhänge und Lüster. Gaspard folgte Etienne, der sich in die Warteschlange einreihte, bereits ein paar Gesichter, die sich diskret nach ihnen umdrehten, mit einem Lächeln

Weitere Kostenlose Bücher