Die Erziehung - Roman
Pose, die Gaspard unwillkürlich so lange musterte, bis es ihr auffiel. Etienne hatte ihn als Sohn eines Freundes vorgestellt, der auf Durchreise in Paris war. Über das Gesicht der Comtesse huschte der Schatten eines Verdachts, doch amüsiert von diesem Geheimnis drängte sie ihre Tochter, eine schmächtige Blondine in einem roséfarbenen Kleid, sich neben Gaspard zu setzen und mit ihm zu plaudern. Die Demoiselle erwies sich, ganz im Gegensatz zu ihrer Erzeugerin, als wenig schwatzhaft, was ihm sehr entgegenkam. »Sehen Sie nur, wie schüchtern sie sind, ist das nicht rührend?«, rief die Comtesse aus. Etienne warf Gaspard einen spöttischen Blick zu. Die Menge nahm ihre Plätze ein, begleitet vom Quietschen der Sessel, den letzten Worten, dem Knistern von Taft. Gaspard, der hinter Etienne saß, schaute auf seinen bloßen Nacken. Etienne neigte den Kopf, lauschte höflich dem unerschöpflichen Flüstern der Madame d’Annovres. Das Unbehagen, das Gaspard bei Betreten der Loge erfasst hatte, verflüchtigte sich, doch es blieb eine leichte Verwirrung zurück, das Gefühl, an diesem Ort fehl am Platz zu sein. Warum hatte Etienne zu verstehen gegeben, dass sein Aufenthalt in Paris begrenzt war, wenn nicht, um ihn ohne Rechtfertigung loswerden zu können, sobald es ihm einfiel? Seine Worte verstimmten ihn, und er hätte ihn am liebsten bei den Schultern gepackt, ihn aufgefordert, öffentlich ihren Sinn zu erklären. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass Etienne ihm seit ihrer Begegnung das ermöglichte, was er so sehr begehrte, mit dem Adel auf gleicher Höhe zu verkehren. Er sah sich gelassen in einer Loge der Opéra-Comique sitzen, ohne dass irgendetwas an seiner Aufmachung ihn von den anderen Zuschauern unterschieden hätte. Aus den Nachbarlogen fing er die gleichgültigen Blicke von Frauen und Männern auf, ihr freundliches Lächeln bisweilen, hinter dem der Wunsch keimte, den Schleier zu lüften, der seine Präsenz umgab, eine instinktive Zustimmung, ausgelöst von dem Bild des Jungen aus gutem Haus, das er in seinem Aufzug bot, außerdem entlockte bereits die Gesellschaft von Etienne de V., ohne dass er es wusste, Kommentare und Vermutungen. Gaspard hatte das Gefühl, kurz vor einem existentiellen Umbruch, am Fuß eines nunmehr vorstellbaren Aufstiegs zu stehen. Dieses ambivalente Gefühl hätte ihn eigentlich mit Freude erfüllen müssen, brachte ihn jedoch ins Taumeln. Eine Stimme flüsterte seinem Gewissen ein, er müsse die Flucht ergreifen, ausbrechen aus der stinkenden Enge dieses Saales, um, weit weg von Etiennes Gegenwart, tief in die Nacht einzutauchen. Doch eine andere, lautere, drängte ihn, sitzen zu bleiben, die Rolle zu Ende zu spielen. Von diesen gegensätzlichen Antrieben hin- und hergerissen wurde ihm die Entscheidung durch das Lüften des Vorhangs abgenommen, über den zwei Alabasterengel wachten. Er holte Luft, drückte sich tiefer in den Sessel, dessen Gerüst er in seinem Rücken spürte, und schmiegte sich an die Polster der Armlehnen. Hatte er denn nicht schon lange von diesem Augenblick geträumt? War es also nicht legitim, sich gehen zu lassen und dieses Ereignis auszukosten? Er empfand eine tiefe Dankbarkeit für Etienne, in dessen Gesicht, obschon zu drei Vierteln unsichtbar, er den Ausdruck von Zufriedenheit wahrzunehmen glaubte. »Ich bin hier genau richtig«, flüsterte er. Adeline d’Annovres, die als Einzige seine Stimme hören konnte, betrachtete ihn amüsiert von der Seite. Er schaute auf die unzähligen Gesichter, die von den ersten Schritten der Komödie auf der Bühne gefesselt waren, und ihm schwellte selbstgefällig die Brust.
Am Tag nach diesem Besuch der Pariser Opéra-Comique erschien Etienne in Begleitung Gaspards bei der Comtesse d’Annovres, wo ein Diner gegeben wurde. Nachdem sie das herrschaftliche Stadthaus in der Rue de Vaugirard betreten hatten, folgte Gaspard Etienne durch einen endlosen dunklen Flur. Durch einen Türspalt erhaschte er einen Blick auf den Speisesaal, den Prunk einer von Kandelabern verzierten Tafel, um die sich Hausdiener drängten, Berge von Blumen anrichteten, Silberbesteck rieben, bevor sie eilig in den Küchen verschwanden. Gedämpfte, von Trunkenheit angeregte Stimmen drangen zu ihnen. Das Haus war gesättigt von Gerüchen, deren einzelne Düfte Gaspard nicht ausmachen konnte. Sie verhießen eine Überfülle ihm unbekannter, erlesener Speisen. Das Bukett, das sich aus den Küchen entfaltete, regte seinen Appetit an, brachte seinen Magen zum
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