Die Erziehung - Roman
Doch hatte er alles in allem nicht gut daran getan, Billod zurechtzuweisen? Zwischen ihnen durfte kein Hindernis errichtet werden. Der Comte würde jeden vernichten, der sich ihrer Beziehung in den Weg stellte. Diese Reaktion war das genaue Gegenteil der Vernachlässigung, die Etienne fast einen Monat lang an den Tag gelegt hatte. Gaspard nahm an, dass er eine Entschuldigung, eine rationale Erklärung haben würde, mit der er nicht gerechnet hatte. Was für eine Art Dienst konnte es sein, den er Billod geleistet hatte? War da nicht die Rede von Lastern und Häusern gewesen? Er hat den Perückenmacher in die Bordelle eingeführt, die in der Hauptstadt so gut besucht sind, dachte Gaspard, und der Gedanke, dass Etienne diese Orte der Ausschweifung ebenso frequentierte, verstörte ihn. Etienne zu folgen wäre eine fatale Dummheit. Er hatte eben den eindeutigen Beweis seiner Unbeständigkeit erhalten, seiner Geschicklichkeit, die Welt zu manipulieren. Er verscheuchte diesen Gedanken, als er begriff, wie sehr diese Wendung der Ereignisse seine Ängste beruhigte. Er nickte erneut ein und kam erst wieder zu Bewusstsein, als es Nacht geworden war. Er glaubte, die Ankunft des Comte nur geträumt zu haben, doch im selben Augenblick klopfte es. Gaspard stand so schnell auf, dass er schwindelte. Er griff die von Billod hinterlassenen Schlüssel und stürzte die Treppe hinunter. Die Tür schlug gegen die Innenwand. Etienne führte eine Hand an seinen Hut und setzte ihn zur Begrüßung ab: »Gehen wir uns ein wenig amüsieren.«
Etienne erwähnte sein Fernbleiben und die Auseinandersetzung mit dem Handwerker mit keinem Wort. Er war glänzender Laune, schien hocherfreut, Gaspard wiederzusehen. So gab dieser seine verdrießliche Miene auf, verzieh dem Grafen alles und hatte seine Qualen bald ganz vergessen. Als der Wagen sich in Bewegung setzte und im Laufschritt dahinfuhr, streckte Etienne Gaspard einen Stapel sorgfältig gefalteter neuer Kleider hin. »Sie sind herrlich«, flüsterte der junge Mann und betrachtete die Manschettenknöpfe und die Seidenkrawatte. Etienne nickte zufrieden. Gaspard zögerte. »Los, nur keine Scham, wir sind unter Männern«, sagte Etienne und zog die Vorhänge zu, um den Passanten die Sicht zu nehmen. Als Gaspard anfing sich auszuziehen und der Schein der Kerze die roten Flecken auf seiner Haut zum Tanzen brachte, verstummte der Graf und betrachtete ihn. Der Perückenmacherlehrling beeilte sich, sein Hemd zuzuknöpfen, das weiße Jabot umzulegen, die schwarze Hose und den ebensolchen Umhang überzustreifen. Einzig die Lederschuhe drückten ein wenig, alles anderes fiel perfekt über seine breiten Schultern, seine enge Taille. Etienne war zufrieden: »Steht Ihnen vorzüglich«, stimmte er zu. »Wohin gehen wir?«, fragte Gaspard und versuchte in der Kutschenscheibe sein Spiegelbild zu erhaschen. »In die Opéra-Comique«, antwortete der Comte. »Es wird ein Stück von Marivaux gespielt, etwas brav, wenn man seine übrigen Werke kennt, aber die Einladung kommt von einer alten Bekanntschaft, der Comtesse d’Annovres, und lässt sich nicht ablehnen. Das Exotische ist gerade in Mode. Die Literatur widmet sich der Sozialsatire, die sie hinter der Fabel oder dem Märchen versteckt. Die Dinge sind in Bewegung, die Publikationen, die sich über die Zensur hinwegsetzen, warnen uns. Man hat Maurepas vorgeworfen, eine wahre Inquisition durchgeführt zu haben, weil sich der Minister des Königshauses über die im Reich florierenden Pamphlete ereiferte. Das ist einigermaßen lächerlich, wenn man weiß, dass er selbst nicht genug bekommen kann von Liebeleien und dass es ihm nie an schlüpfrigen Anekdoten fehlt. Der König, heißt es, amüsiere sich darüber. Das, Gaspard, muss in diesen Schriften gelesen werden, die Rasse der Adeligen ist am Ende. Wir sind keine Halbgötter, keine Unberührbaren mehr. Das Volk verlangt Rechenschaft, bald müssen wir sie ablegen. Uns wird der Prozess gemacht, in Kürze werden wir im Namen der Moral verurteilt. Bis zum Hof. Die Zeit der großen Herren ist abgelaufen. Die Idole sind früher oder später dem Untergang geweiht, und nichts erfreut ein Volk mehr als der Zusammenbruch der Machthaber. Die Kritik befindet sich im Aufwind, sie unterhält, gilt als harmlos, doch es wäre ein Irrtum, sie zu unterschätzen. Da, werfen Sie einen Blick aus dem Fenster. Sehen Sie dort das Café de l’Avenir ? Hier wird jeden Abend philosophiert, nachgedacht, die Zeitung vorgelesen, damit auch die
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