Die Erziehung - Roman
vermodertem Gemüse und Obst lief an ihm herunter. Manche Schüsse verfehlten ihr Ziel und zerplatzten auf dem Henker. Polizisten versuchten vergeblich, den Volkszorn zu besänftigen. Schranken wurden herbeigetragen. Mit dem Gewehr in der Hand zwang man die Schaulustigen zurückzutreten. Die Flut zog sich zusammen. Etienne wurde auf Gaspard geworfen, der beim Zurückweichen einer Fischhändlerin auf den Fuß trat, die ihm ins Ohr brüllte. Dann drängte die Brandung sie erneut vorwärts gegen die Schranken. Sie standen dicht vor den Gewehren und den schreienden Gesichtern der Polizisten. Einzig der Verurteilte blieb stoisch inmitten dieser Raserei, ohne einen Blick auf den gehässigen Pöbel zu werfen. Der Henker, ein höllischer Koloss, band ihm die Handgelenke an den Hüften fest. Der Strick schnitt tief in seine bald fahl gewordenen Hände. Gaspard beugte sich Etiennes Schulter zu: »Was hat dieser Mann getan?«, schrie er gegen den Tumult an. Als sich der Comte zu ihm wandte, sah Gaspard, welchen Genuss ihm das Schauspiel bereitete. »Er hat ein Kind missbraucht, das daran gestorben ist. Es ist schon eine Weile her, der Mann war untergetaucht. Aber dann hat er sich gestellt, wahrscheinlich hatte er Gewissensbisse.« Gaspard spürte, wie sein Herz einen Sprung machte. War es möglich, dass der Mann vor ihm das Ungeheuer war, von dem Doktor Chaillon im Atelier gesprochen hatte? Ihm wurde übel, und er bekam fast keine Luft mehr. Er stellte sich vor, wie er selbst unter dem Geschrei der Menge an diesen Pfosten gebunden war. Das kommt daher , sagte er sich, während er den Schänder betrachtete, dass dieser Mann so banal ist . Hätte er doch wenigstens auf dem Gesicht die Züge von Gewalt getragen, von Unsittlichkeit, die Fratze eines Ungeheuers, sodass Gaspard eine Erleichterung gespürt hätte. Doch wie er seine Strafe abwartete, war er nichts als ein Langweiler, der sich genauso gut in der Menge der Ankläger befunden haben könnte, ohne dass ihn jemand beachtet hätte. Etienne sagte: »Im Grunde spielt es keine große Rolle, ob er schuldig ist oder nicht. Man hat schon etliche arme Verrückte gesehen, die sich sämtlicher Übel bezichtigten und von ihrer eigenen Schuld überzeugt waren, ohne dass sie das geringste Verbrechen begangen hatten. Das tote Kind ist ein Kind aus dem Volk, und das Volk will einen Schuldigen. Also setzt man ihm einen vor. Welche Beweise gibt es, dass er es war? Ich weiß es nicht. Vielleicht stichhaltige, vielleicht auch gar keine. Wenn er sich als Urheber des Verbrechens angezeigt hat, dient er als Beispiel und zur Abschreckung. Schauen Sie nur, wie sie nach Rache brüllen. Sie frohlocken. Dabei war dieses Kind, als es noch lebte, für niemanden von Interesse, aber es war eins von ihnen, und in solchen Fällen wird es das Kind aller. Der Mensch braucht stets, in jeder Situation, die sich über die Moral hinwegsetzt, ein Individuum, das für sich allein das Laster verkörpert und die Welt von ihrem Gewissen entlastet. Aber glauben Sie, dass dieser Kerl den Akt ohne unser aller Zutun begangen hat?« Gaspard zuckte die Schultern, sah nicht, wie es möglich sein sollte, in das Leben dieses Mannes, dessen Gesicht er noch nie zuvor gesehen hatte, einzugreifen. Da wurde er durch den Henker abgelenkt, der das Podium vor ein paar Sekunden verlassen hatte und bereits wieder hinaufstieg, den Verurteilten am Seil. Als er ihm die Schlinge um den Hals legte, tobte die Menge. »An den Galgen mit dem Aas!«, schrie ein Mann. »Man reiße ihm den Schwanz aus!«, brüllte eine Mutter, die ein dreckiges Kinderknäuel auf dem Arm trug. Der Henker prüfte die Knoten. Man schrie noch lauter, die Augen traten aus den Höhlen, die Zungen hingen aus den aufgesperrten Mündern. Ungerührt ergriff der Henker mit der linken Hand die Haare des Verurteilten und zog seinen Kopf nach hinten, führte der Menge das Gesicht vor. Für eine Sekunde setzten die Schreie aus, während sich jeder überzeugte, dass dies die Fratze des Verbrechens war. Man brüllte, er solle gehängt werden. Der Henker verließ das Podium, legte eine Hand auf den Hebel, betätigte ihn abrupt. Eine Falltür öffnete sich, und der Verurteilte fiel unter frenetischem Applaus fast zwei Meter in die Tiefe. Normalerweise hätte dieser Fall gereicht, um den Nacken zu brechen und das Rückenmark zu durchtrennen, um ihn auf der Stelle zu töten. Doch die Vorsehung hatte Erbarmen mit dem unersättlichen Gerechtigkeitsdurst des Volkes, und der Erhängte,
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