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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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mehr einen jungen Aristokraten, sondern einen jämmerlichen Verkleideten, eine wahre Karnevalsfigur. »Ich werde nie etwas anderes sein als ein kostümierter Geck«, sagte er leise. Der Raum blieb stumm, da war nichts, das ihm widersprach. Ein Zweifel packte ihn. War es nicht genau das, was Adeline d’Annovres sofort durchschaut hatte, als sie ihn sah? War es nicht genau das, was sämtliche Gäste beim Diner am Vortag beim Anblick dieses viel zu schüchternen jungen Mannes dachten, der so genannten Bekanntschaft des Grafen? Vielleicht hatten sie sich nach dem Empfang über ihn lustig gemacht. Kein Zweifel, sie hatten gelacht oder sich empört, dass man sie hereinzulegen versuchte, hatten von seiner Ungeschicklichkeit gesprochen, von seinem völligen Versagen in der Kunst der Konversation. Noch schlimmer, dachte Gaspard, es war möglich, dass Etienne mit ihm gespielt hatte, dass er genau vorhergesehen hatte, dass sein Schwindel aufflog. Er zwang sich, diese Zweifel aus seinem Geist zu verbannen, und warf den Spiegel zu Boden, der auf dem Lehm zerbrach. Er musste aufhören, so ängstlich zu sein. Schließlich waren die Gäste der d’Annovres’ viel zu betrunken gewesen, um irgendetwas zu argwöhnen. Und sollten sie doch Verdacht geschöpft haben, welche Beweise hätten sie dann? Etiennes Geheimnisse schienen sie zu begeistern, am Ende könnte ihm das helfen. Er strich die Ärmel seines Hemdes glatt. Warum bat der Graf ihn mitten am Nachmittag zu sich, obwohl er wusste, dass er damit Billods Zorn auf sich ziehen würde? Er zögerte, doch es war zu spät, um sich bei Etienne zu entschuldigen. Der Bote war bereits wieder weg. Er hatte im Grunde auch keine Lust abzusagen. Die Vorstellung, Etienne zu sehen, beflügelte ihn und verjagte die Apathie, in der er den ganzen Tag versunken war. Billod hatte ihn gezwungen, in den stinkenden Keller zurückzukehren, es geschah ihm also nur recht, dass er seine Vorschriften übertrat. Er zog die Schuhe an, begab sich auf die Straße und ging Richtung Seine.
    Die Kälte umfing ihn sofort mit ihrer aufdringlichen Nähe, ließ ihn nicht mehr los, glitt in seine Kleider, ergriff sein Fleisch und seine Knochen. Seine Muskeln wurden zu Stein. Er zitterte, seine Zähne klapperten. Die Hände unter die Achseln geklemmt, kämpfte er mit gesenktem Kopf gegen die Böe an. Als er in die Rue Saint-Jacques einbog, fiel ihm auf, dass er seit Monaten nicht mehr flusswärts gegangen war. Bei dieser Feststellung erstarrte er noch mehr. Die Kälte legte die Stadt lahm. In den Rinnsteinen stockte der Schlamm. Die Droschken kneteten diesen Matsch unter ihren Rädern und den Pferdehufen. Ein Kapuzenmann ritt auf einem Pferd vorbei, rief einer alten Tabakhändlerin zu, ihren Verkaufsstand beiseitezuschieben. Sie antwortete ihm mit Beschimpfungen, er hob die Reitpeitsche, als wollte er sie ins Gesicht schlagen. Gaspard warf einen Blick über die Schulter und wechselte die Straßenseite, um zu verhindern, dass die Frau ihn zum Zeugen nahm. Sie herrschte bereits die Passanten an, die der Szene beigewohnt hatten. Ein Fenster öffnete sich, jemand warf einen Haufen Unrat hinaus, verschimmelte Gemüseschalen, Saft von vergammeltem Fleisch, der in einer langen Spur über die Fassade lief, bevor er auf dem Boden aufschlug. Gaspard konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, er beschleunigte seinen Schritt. Inzwischen war er ein echter Pariser geworden, die Straße hatte keine oder fast keine Geheimnisse mehr für ihn. Dann dachte er, wahrscheinlicher sei es, dass er für Paris keine Geheimnisse mehr barg, nicht umgekehrt. Sobald er durch diese Straßen ging, hatte er das Gefühl, dass man tief in ihn eindrang, dass er von einer dunklen Macht geführt wurde. Womöglich lag dieser mysteriöse Einfluss, der einer Bedrohung gleich war, nicht außerhalb seiner, sondern in ihm, und womöglich trieb ihn nicht die Stadt, sondern er wurde von seinen eigenen finsteren Mächten verschlungen. Wieder fröstelte er, dachte an Etienne. Die Aussicht auf ihr Treffen beruhigte ihn, verscheuchte die düsteren Gedanken. Er erreichte die Brücke, betrat sie, obwohl seine Beine ihm kaum mehr gehorchten. Weit unter ihm floss die apathische Seine, die ihre Schwärze mit der des Himmels vereinte. Der Geruch sprang Gaspard an, rief ihm die Basse Geôle in Erinnerung. Er fühlte Ekel aufsteigen, denn die Ausdünstung verband sich mit dem Bild der Körper in ihrem Salzkleid. Der Nachmittag ging seinem Ende entgegen, und die Insel

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