Die Erziehung - Roman
Hinrichtung aufgelehnt? Man ergötzte sich vor nicht allzu langer Zeit sogar noch an der Folter. Die Zeiten ändern sich, aber das sind im Grunde nur winzige Variationen. Das Wesen einer Art ändert man nicht mit ein paar Umstürzen und auch nicht in ein paar Jahrhunderten.« Gaspard ärgerte sich über Etiennes schulmeisterlichen Ton. Als er herkam, war er überzeugt gewesen, ihn zu einem Diner zu begleiten, und nun musste er, nachdem er erst einer Hinrichtung beigewohnt hatte, hinter dem Grafen durch die Stadt trotten. »Ich verstehe nicht, worin das Interesse besteht, deswegen herzukommen«, sagte er endlich. »Da ist keines, ganz richtig«, antwortete Etienne, »oder fast keines. Abgesehen von der Zerstreuung kann der Anlass Ihnen verständlich machen, wie sehr der Mensch, der über seine Natur im Bilde ist, fähig ist, die Welt zu führen. Das sind Dinge, die im Leben nützlich sind.« Gaspard antwortete nicht, war verstimmt über diese Lektion, wo doch ein Salon oder ein Diner eine viel überzeugendere Übung gewesen wäre. Um sie herum klappten die Verkaufsschuppen ihre Läden zu. Eine halbe Stunde lang sagte Etienne nichts. Sie gingen durch das Viertel, überquerten erneut den Fluss, ohne ein bestimmtes Ziel, wie zwei stumpfsinnige Marionetten. Der Graf kümmerte sich überhaupt nicht um Gaspard, sodass der junge Mann sich bald unerwünscht vorkam. »Vielleicht möchten Sie gerne allein weiterspazieren? Ich kann Sie in Ruhe lassen und zurückkehren, Billod wartet bestimmt auf mich, er muss außer sich sein vor Wut.« Etienne blieb stehen, musterte Gaspard und schien nachzudenken, das Für und das Wider seines Vorschlags abzuwägen. Diese Haltung , dachte Gaspard, soll mir zeigen, dass meine Anwesenheit nicht unerlässlich ist. Er fragt sich, ob ich ihn genug langweile, um mich zu entlassen, oder ob er mich noch eine Weile ertragen kann. Dieser Gedanke steigerte noch seinen Zorn, das Gefühl, erniedrigt zu werden, nicht geschätzt zu sein, schürte aber auch das Verlangen, nicht nach Hause zu gehen, und während der Graf ihn betrachtete, begann er sich sehnlich zu wünschen, er möge ihn bitten, bei ihm zu bleiben. Die Vorstellung, ins Atelier zurückzukehren, Billod in die Augen sehen zu müssen, dann in den Keller hinabzusteigen, kam ihm unerträglich vor. Da sagte Etienne plötzlich mit entschlossenem Ausdruck: »Kehren wir ins Atelier zurück.«
Sie nahmen eine Droschke, die sie in die Rue de la Parcheminerie brachte. Während der Fahrt blieb Etienne mürrisch. Gaspard verstand nichts von seinen Absichten, seine Kehle war wie zugeschnürt. Der Wagen hielt, und Gaspard stieg wortlos aus. Er merkte, dass Etienne ihm folgte, das Fahrzeug ebenso verließ, und spürte wieder Hoffnung aufkeimen. Etienne ging mit abwesendem Blick auf das Atelier zu. Als Gaspard die Tür öffnete, lief er zur Treppe, die zum Keller führte, und stieg hinab. Verblüfft machte Gaspard eine Geste, um ihn zurückzuhalten. Es kam nicht in Frage, dass der Graf diesen Ort betrat und über seine lächerliche Situation als Perückenmacherlehrling und Hausbursche hinaus auch noch den schändlichen Ort entdeckte, an dem er lebte. Er war überzeugt, dass Etienne angesichts dieser offenkundigen Niedrigkeit nur Abscheu empfinden konnte, und er folgte ihm widerwillig, nachdem er vergeblich gewartet hatte, dass er umkehrte. Unten fand er den Grafen mitten im Raum stehend, sein Profil von der tiefen Dunkelheit angenagt. »Hier ist es also«, sagte Etienne. Gaspard antwortete nicht, blieb verlegen am Fuß der Treppe stehen, fürchtete den Blick, den der Graf auf den Keller richtete, auf die aufgerissene Matratze, den lehmigen Erdboden, die Feuchtigkeit der Mauern. Ihr Atem zeichnete kurzlebige Hauchblüten in die Luft. Er stellte sich neben Etienne, gedemütigt, als ob diese verletzende Intimität, die er offenbarte, Gaspards Wesen in sich trüge, das, worauf er sich reduzieren ließ.
In diesem Augenblick fand er sich durch diese Inquisition aufs Tiefste erniedrigt. Etiennes Eindringen machte all das, was seit Monaten die Welt um ihn herum zusammengehalten hatte, zunichte. Er überlegte sich, ob er ihn zurückstoßen, ihm befehlen sollte, den Keller augenblicklich zu verlassen. Entschlossen legte er die Hand auf die Brust des Grafen, wollte ihn zum Weggehen zwingen, zum Verschwinden bringen. Doch hinter seinem Zorn hatte eine Empfindung geschwelt, die nun plötzlich hervorbrach. Die Nähe ihrer Körper entzündete sein Verlangen nach Etienne.
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