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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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statt sich in aller Stille zu versteifen und zu ersticken, fing an, am Ende seines Seiles zu zappeln, das Gesicht bald rot, die Adern hervorspringend, dann blau, und unter seiner Leinenhose wurde er steif wie ein Esel. Die Gaffer hielten den Atem an, es wurde still auf dem Platz. Nur das Ächzen des Galgens war zu hören, das durch die ungelenken Bewegungen ausgelöst wurde. Seine Kiefer pressten sich zusammen, die Zähne brachen, fielen zu Boden, Fetzen von Zahnfleisch blieben an den Lippen kleben. Die Zunge, die herausbaumelte, war durchgebissen. Ein Blutstrahl lief über das Kinn. Die Zuschauer schrien bestürzt auf. Der Verurteilte war zu einem Hampelmann geworden, der eine groteske Sarabande aufführte. Die Arterien ließen den Hals anschwellen, die Augen liefen aus, standen hervor, ein gutturales Röcheln entströmte. Entsetzen machte sich breit. Der Mann weigerte sich zu sterben, drehte sich wie ein Kreisel, war bald ganz schwarz. Die Frauen brüllten, verdeckten den Kindern die Augen. Andere wandten sich von dem Schauspiel ab, gingen nach Hause. Nun flogen die Steine auf den Henker, man buhte ihn aus, dann war die Gendarmerie an der Reihe. Etienne jubelte, packte Gaspard am Arm: »Das Volk will den Tod, aber den sauberen Tod, eine gute Arbeit. Von dem man sich abhebt, an dem man unschuldig ist. Aber schauen Sie, jetzt erkennen sie den Mann, den sie noch vor wenigen Augenblicken mit eigenen Händen umgebracht hätten, als einen von ihnen. Von dem sie sich kurz zuvor weit genug entfernt fühlten, um ihn verurteilen zu können.« Nun zuckten nur noch die Muskeln des Erhängten, der leicht schaukelte, von Tomatenmark bedeckt. Gaspard schüttelte den Kopf: »Dieser Mann hat seine Strafe doch verdient, nicht wahr? Wenn sie es nicht sehen wollen, warum sind sie dann so zahlreich hergekommen?«, fragte er, ohne den Blick von dem metamorphosierten Gesicht der Leiche lösen zu können. Etienne hielt ihn noch immer am Arm. Er zog ihn vom Platz, wo der Zusammenstoß des Volkes mit den Ordnungskräften an Intensität gewann. Schon wurden die ersten Aufrührer ins Grand-Châtelet abgeführt.
    Als sie etwas abseits waren, sagte Etienne: »Das Volk ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich zu zerstreuen, zwischen seinem Voyeurismus und der Allmacht des Königtums, das über sein Recht zu leben entscheidet. Natürlich möchten sie es dem Verbrecher gebührend heimzahlen, aber sobald sie merken, dass sie mit einer Justiz gemeinsame Sache machen, die sie verabscheuen, vergessen sie das Ungeheuer und beginnen den Menschen zu sehen. Ein gemeiner Tod rüttelt zu sehr am Gewissen, als dass es möglich wäre, passiver Zuschauer zu bleiben. Also lehnt man sich auf. Morgen wird überall von diesen abscheulichen Hinrichtungen gesprochen werden, die der Hof inszeniert, man wird schwören, seinen Fuß nie mehr an einen solchen Ort zu setzen, nur hergekommen zu sein, um besser protestieren zu können, oder gar aus Zufall.« Gaspard senkte die Augen und bemerkte, dass er die Kleider trug, die Etienne ihm geschenkt hatte. Vielleicht hatte man ihn als Adeligen angesehen, der aufgrund einer obskuren Verkettung der Umstände an der Hinrichtung schuld war. Er hatte plötzlich Angst, man könnte ihn zur Verantwortung ziehen, und wünschte sich, seine alten Fetzen zu tragen, in denen er sich augenblicklich auf der Seite der Gerechten befunden hätte. Etienne, elegant, doch einfacher gekleidet, kümmerte sich nicht um die Spannung ringsum und beobachtete, wie sich die Meute zerstreute. Man band den Körper los, um ihn wegzutragen, während neue Schaulustige zusammenströmten, die noch einen kurzen Blick auf die Überreste zu erhaschen suchten. Als er das Schauspiel als beendet betrachtete, entfernte sich Etienne. Sie gingen, bis eine Ansammlung riesiger Wolken den Himmel verdichtete und das Tageslicht dämpfte. Etienne kommentierte unermüdlich jeden einzelnen Augenblick der Vollstreckung. »Was man verstehen muss«, sagte er, »ist, wie wankelmütig der Mensch ist, in der Gesellschaft ist er dumm, und wenn er allein ist, unschlüssig. Das hindert ihn oft daran, die Welt zu sehen, zu handeln, und verdammt ihn zum Fatalismus.« – »Wenn Ihre Weissagungen sich erfüllen«, sagte Gaspard, »dann ist jedoch eine Veränderung in Gang. Das Volk lässt sich nicht täuschen.« Etienne lächelte: »Nein, mein Junge, weder Weissagung noch Orakel, einzig Beobachtung. Denken Sie, das Volk hätte sich zu Beginn des Jahrhunderts gegen eine

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