Die Erziehung - Roman
heraus, um den Grafen zurückzuhalten, der auf die Treppe zuging, mit diesem betrübten Ausdruck, der stets in seinem Gesicht stand. Dann, als er einen Fuß auf die erste Stufe setzte, drehte er sich noch einmal um: »Jetzt weißt du, worin du dich auszeichnest.«
DRITTER TEIL Rechtes Ufer
I
EIN ABSCHIED, EINSAMKEIT,
EINE VERIRRUNG
Der Himmel war aus Anthrazit. Die Wolken rollten wie dichte Kontinente über ihn hinweg, warfen ihre Schatten auf das Dächerwirrwarr. Aus tausend arthritischen Schornsteinen schoss der Rauch, ein Atem aus unzähligen Mündern, weiß wie Samen, tausendfach in den einäugigen, sterilen Himmel ejakulierter Samen. Diese mineralischen Eingeweide gaben geizig etwas Wärme auf die Körper ab, unter der Dächerkruste, irgendwo in den Mäandern der Stadt. Herrlich erhob sich der Dunst, blühte auf, verband sich mit anderen. Gemeinsam dominierten sie Paris, stellten der Sonne ein Hindernis entgegen, dämpften das Tageslicht, hielten die Nächte gefangen. Möwen mit kohlestarrem Federkleid überflogen die Hölle dieser Stadt, ihr Husten vermischte sich mit dem Krächzen der Saatkrähen, die auf spitzen Füßen die Straßen mit ihrem metallenen Glanz schmückten.
Die Körper verschwanden unter Stoffschichten, Jutesäcken, Fetzen, fetter Wolle. Das Fleisch musste versteckt werden, wenn es nicht von der Kälte aufgefressen werden sollte. Nur selten ragte eine gerötete, vom Frost gebeulte Hand aus dieser Ansammlung von Lumpen, ein Antlitz aus dem Schlitz einer Kapuze. Seinen Nachbarn erkannte man nicht am Gesicht, sondern an der Farbe seiner Fetzen, an seinem lächerlichen Gang, mit dem er sich dem Schnee zu entreißen suchte. Der Kampf gegen den Winter wurde unerbittlich. Auf den Straßen türmte sich der Schnee, der unermüdlich immer wieder von Neuem fiel, auf die Dächer drückte, die Straßen vereiste, die Häuserfronten umsäumte. Dieser ungebetene Gast musste früh am Morgen angegangen werden. Bald unvertreibbar geworden setzte er sich in der Stadt fest, verunstaltete sie. Die Schaufeln stachen durch das Eis, der Atem sättigte die Luft. Die geballten Muskeln der Pariser stellten sich den Massen entgegen, die die kommende Nacht erneut vor ihre Tür werfen würde. Tag für Tag lagerten sich diese Berge, von den Säften der Stadt schwarz und gelb gefärbt, an den Straßenrändern ab.
An den Seineufern löste sich der Morast beim Vorbeifahren der Schiffe in braunen Eisschollen, die schwerfällig durch die Schwärze des Flusses trieben. Die Eimer, die aus den Tiefen der Brunnen gezogen wurden, brachten ein stinkendes Nass zutage. Beim Trinken riss es die gespaltenen Lippen noch mehr auf, stach wie Nägel in die Zahnwurzeln und die Karies, ließ die Kehlen in Krämpfen erstarren. In einem Frostkleid ragten die Bäume zum Himmel. Bei einer Aufklarung glitzerten bisweilen ihre Äste, diamantenbesetzt, und diese überraschende Schönheit inmitten der Abscheulichkeit der Stadt versetzte ein paar Passanten in Verzückung, bis der Himmel sich geizig wieder verschloss und der Baum nichts anderes mehr war als ein Gestrüpp von düsterer Gestalt.
In der Feindseligkeit des Winters wurde jede Geste schmerzhaft, jeder Schritt außerhalb der Häuser mühsam, die Kakophonie der Straßen bekam einen tiefen Unterton, ließ den Geräuschen des Alltags Platz, die gewöhnlich schreienden Stimmen wurden roh, heiser, verhalten. In diesem wimmelnden Durcheinander wurden die Körper mutiger, jeder Augenblick von Nähe rechtfertigte eine flüchtige Berührung, den Raub von ein bisschen Wärme. Für viele stellte der Alkohol eine Kompensation dar, man drängte sich in die Herbergen, wo man mit einem nicht allzu teuren Schnaps und ein wenig fleischlicher Fermentation rechnen konnte. Die Atemluft schlug sich an den Fensterscheiben nieder, lief in trägen Tropfen daran herunter, verdeckte die Sicht auf die Stadt und, wer weiß, für die Zeit des Rausches, auf die Absurdität des Lebens. Der Winter bedeutete auch die sichere Einsamkeit. In den Gebäuden verschanzt, hinter Hunger und Kälte, konnten die Menschen nicht mehr an eine Begegnung glauben. Nichts war feindseliger als dieser mögliche andere, der genauso auf etwas Wärme und Mitleid aus war. Einer dem anderen fremd, kämpfte jeder in seinem trostlosen Leben gegen die Gehässigkeit des Winters an.
Antoine Labussière, Tapezierer in der Gobelin-Manufaktur, der mit seiner Frau und seinen vier Kindern zwei Zimmer in der Rue Phelipeaux bewohnt, betrachtet seine Gattin
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