Die Erziehung - Roman
manchen Stellen hatte sich ein nahezu unsichtbarer Flaum gebildet. Gaspard hatte darin den Beweis für seine Macht über den Grafen gesehen. Eine inzwischen wahrscheinlich verblichene, aber doch reale Macht, da es möglich war, mit seinem Zeigefinger eine Reaktion auf diesem Fleisch auszulösen. Dabei war er für ihn nichts als eine Zerstreuung gewesen, und der Gedanke an die Art, wie Etienne ihn behandelt hatte, führte ihn weit aus dem Atelier und aus Paris hinaus, nebligen Erinnerungen an Quimper zu, die er zurückzuhalten suchte. »Wie«, sagte er laut in den Keller hinein, »soll man über eine solche Erniedrigung hinwegkommen?«
Er träumte, dass er seinen Körper genoss, seine Linien, seinen Geruch, die Farbe seiner Haut, bis in die kleinsten Winkel, in die intimsten Bereiche hinein. Gaspard träumte auch von einem Massengrab, aus dem ein Fluss von nackten, aufeinandergestapelten, ineinander verwickelten Körpern strömte. Mit aneinanderreibenden Häuten, sich vermischenden Gerüchen, angespannten Muskeln trieben sie vorwärts. Gaspard lag auf diesen Körpern, von ihrer schlängelnden Bewegung mitgetragen. Die Arme fassten nach ihm, zogen ihn an sich. Die Häute verschlangen ihn, sein ganzes Wesen war erfüllt von dieser Berührung, diesem Übermaß an Kraft, Schamlosigkeit, derber Sinnlichkeit. Als er aufwachte, verachtete er Etienne dafür, dass er sich in seine Träume schlich. Dann zögerte er, hatte das Gefühl, auf den Laken noch immer den Geruch seines Körpers zu spüren, diesen Geruch der Verführung. Aber , dachte er, war das nicht der Geruch des Geschlechts?
Denn Etienne, nicht genug, dass er ihn vernichtete, hatte ihn auf das fleischliche Vergnügen reduziert und so seine Persönlichkeit ausgelöscht. Weil mir genau das fehlt , dachte Gaspard. Ich bin eine Hülle, ein Haufen aus Fleisch und Knochen, nichts anderes als eine Ansammlung von Organen, die mich am Leben erhalten. Bin ich überhaupt am Leben? , fragte er sich. Nichts schien ihm weniger sicher, als könnte er sich auf seinem Lager jederzeit verflüssigen, in Luft auflösen. Er hatte sich vom Grafen erfüllt geglaubt, von ihrer Beziehung beseelt, hatte daraus gefolgert, dass diese Freundschaft ihm eine Berechtigung verleihen würde. Was konnte er, so zurückgestoßen, noch zu sein behaupten? Er fühlte sich leer und freudlos, wie das ganze Universum rings um ihn. Während all der im Keller verbrachten Tage, den er nur für einen Teller Suppe oder ein Stück Brot verließ, träumte er, dass die Seine die Stadt überflutete. Eine immense Welle verwüstete die Straßen, schwemmte in ihrer Gischt die verdutzten Menschenmassen mit. Die Tür zum Keller zerbarst, das Wasser toste wütend herein. Das Bett hob sich, die Laken wurden vom Strudel erfasst und schwammen, riesige, grazile Medusen, über seinen bald überschwemmten Körper, und Gaspard beschloss, nicht zu kämpfen, tief einzuatmen, seine Eingeweide dem Ansturm des Flusses zu öffnen.
Im Atelier wurde es still. Als es Gaspard gelang, wieder in der Wirklichkeit des Kellers Fuß zu fassen, stellte er mit Erstaunen fest, dass die Bewegungen der Kunden weniger geworden und schließlich ausgeblieben waren. Erst war er erleichtert, dass das geschäftige Treiben endlich ein Ende genommen hatte, denn die Vorstellung, dass anderswo das Leben weiterging, war unannehmbar. Auch wenn er kein Zeitbewusstsein mehr hatte, schien es ihm, dass das Atelier innerhalb weniger Tage zum Schweigen gekommen war. Als er einmal nach Einbruch der Dunkelheit aufstehen musste, glaubte er Justin Billod zu überraschen, der, er hätte es schwören können, unbeweglich auf den Stufen stand, die vom Hauseingang zur Kellertür führten. Während Gaspard die Treppe hinaufging, hörte er durch die Tür verwirrte Schritte, die eilig Richtung Atelier verschwanden. Gaspard blieb auf halbem Weg stehen, horchte auf die Schritte, die überhaupt nicht denen Billods, gewöhnlich wütend und rachsüchtig, glichen. Und doch hörte er sie bis in die Wohnung des Meisters hinaufgehen, was kaum mehr Zweifel offenließ. Gaspard schüttelte den Gedanken ab und kehrte ins Bett zurück. Nach mehreren Stunden unruhigen Schlafes wachte er mit dem Gefühl auf, mehrfach dieses Getrappel auf der Treppe gehört zu haben, das einzige Geräusch vielleicht, das noch zu ihm drang als Beweis einer Aktivität im Atelier. Er hatte das schreckliche Gefühl, dass die Person, die sich ununterbrochen hinter dieser Tür aufhielt, ihn beobachtete, jedem
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