Die Erziehung - Roman
und seine Sprösslinge, die im selben Bett unter ein paar Decken gerollt schlafen. Das Zimmer hat kein Fenster und auch keinen Kamin, darum hat er eine Kerze angezündet, die neben ihm dahinsiecht. Er beobachtet das Glühen des Dochtes. Unten blau umkränzt steigt es als leuchtender Kegel empor. Die Flamme, die unter seinem Atem schwankt, ist von einer Aura umgeben. Deutlich sieht er die Grenze zwischen dem Kern und der Aureole, eine scharfe Linie. Er beugt sich vor und haucht auf die Kerze, um die Flamme zu stören. Sein jüngster Sohn ist zwischen seiner Mutter und seinen drei Brüdern eingekeilt. Er kann sein Gesicht nicht sehen, weiß aber, dass es blau angelaufen ist. Unter seiner Haut rollen tausend Saphire. Seine Zähne stoßen ununterbrochen den weißen Schmelz aufeinander. Alle die Seinen zittern, die Decken bewegen sich von ihrem Frösteln, ihren verstörten Träumen. Die Kälte beherrscht alles. Kein Stoff ist ihr gewachsen, auch nicht die Fäustlinge, mit denen sie schlafen. Sie dringt überall ein, hat es auf das Fleisch abgesehen. Antoine Labussières Hände und Füße erinnern an Marmor. Die Erschöpfung raubt ihm den Verstand, unschuldig flackert die Flamme der Kerze, in Schach gehalten vom Ende des Wachsstocks. Es kommt nicht in Frage, seine Familie noch weitere drei Monate unter dieser Kälte leiden zu sehen. Mit verwirrender Deutlichkeit erkennt er, dass er die Seinen nicht länger dieser Folter aussetzen kann, und die Wärme der Kerze bringt ihn auf die Idee mit dem Feuer. Ja, ein Feuer muss her. Ein Feuer, das ihre Körper wärmt, das Zimmer mit seinem schönen Licht erfüllt. Dass weder ein Kamin noch ein Fenster vorhanden ist, ist nebensächlich für Antoine Labussière, der doch eigentlich ein ehrenwerter und vernünftiger Mann, ein aufmerksamer Vater und zuverlässiger Gatte ist. Sein Geist setzt aus bei der Vorstellung von dem bisschen Wärme, nach der sich sein Körper sehnt. Leise, um niemanden zu wecken, steht er auf, schichtet auf den Fußboden sämtliche Gegenstände aus Holz, wertlose Sachen, erbärmliche Schätze. Sie bilden einen Haufen in der Mitte des Zimmers, so lächerlich, er hätte am liebsten gelacht, ist doch hier alles versammelt, was sie je erworben haben. Ihr ganzes Leben liegt da auf dem Boden herum, ein albernes Durcheinander, das es wohl wert ist, denkt Antoine Labussière mit Überzeugung, für das Wohl der Seinen geopfert zu werden. Was kümmert ihn die Stadt, zum Teufel mit dem Winter! Er streckt die Kerze hin, beobachtet, wie die Flamme dem Stroh eines Stuhls entgegenzittert, auszugehen und ihn noch steifer und verzweifelter in der Dunkelheit des Zimmers zurückzulassen droht. Aber dann schwillt das Feuer mit einer Geschwindigkeit an, dass Antoine Labussière seine helle Freude hat. Er tritt zurück und kauert sich in eine Zimmerecke, zieht die Knie unters Kinn. Er spürt, wie die Liebe zu den Seinen seine Brust anschwellen lässt, wie das Feuer seine heilsame Wärme auf die Decke wirft, das Antlitz seiner Frau, die pausbäckigen Gesichter seiner Söhne enthüllt. Als der Rauch bereits alles durchdringt, erwacht die Bürgerin Labussière, hustet, setzt sich im Bett auf. Ihr Blick erkennt undeutlich die Überreste ihres Mannes, ihre Hände betasten das Bett, finden die leblosen Körper ihrer Söhne. »Was hast du gemacht«, röchelt sie, »mein Gott, was hast du nur gemacht?«
Zwei Straßen weiter zur gleichen Zeit, da die Familie Labussière sicher ist, nie mehr frieren zu müssen, betrachtet Marie-Joseph Tuillenne die knisternde Glut im tröstenden Kamin und stirbt an Einsamkeit. Vielleicht auch an etwas anderem, an einer Krankheit vermutlich, aber unwichtig an welcher, denn Marie-Joseph Tuillenne weiß ganz genau, dass sie am Alleinsein stirbt. Unter der Daunendecke verbirgt sie einen Körper voller Geschwüre, aber keinerlei Bedauern. Oder fast keins. Als Liederhändlerin hat sie eine Dichterseele und ein resigniertes Herz. Die kleine Unterkunft, in der sie zur Miete wohnt, ist ruhig. Dennoch hört sie über sich und unter sich vertraute Geräusche. Das ist eine Qual. Sie möchte die Wände einreißen, einzig durch die Kraft ihres Begehrens, die Leben entdecken, die sich dahinter verbergen. Die Bürgerin Tuillenne ist ganz durcheinander, denn sie war eingenickt. Im Schlaf ist ihr die erste Liebe erschienen und hat sie an sich gedrückt, obwohl sie sich hässlich und nackt fand. Ihr Körper, von sabbernden Wunden entstellt, war dem Blick des Geliebten
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