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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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anderen zu entfachen und zu befriedigen, auch verkaufen. Musste er, da er nichts mehr darstellte, da er willenlos und verachtenswert war, ununterbrochen gegen die Stadt kämpfen, oder sollte er sich endlich von ihr verschlingen, vielleicht vernichten lassen? »Gibt es in diesem Haus ein Zimmer zu mieten?«, fragte er. Emma antwortete nicht. Ihr Atem war ruhig und tief.

III

EINE VERWANDLUNG
    Vierzigtausend Huren herrschten über Paris. »Wenn Sie eine Ratte sehen«, hatte Justin Billod weise gesagt, als er einmal einen Fuß in den Keller setzte, »dann haben sich hundert weitere in der Dunkelheit verkrochen.« Gaspard stellte fest, dass es sich mit den Freudenmädchen genauso verhielt und dass sich, sobald man sich auf die Seite dieses verblüffenden Babel geschlagen hatte, in seine unzüchtigen Röcke eingedrungen war, die ungeahnte Menge der Dirnen in ihrer spektakulären Vielfalt erblicken ließ: von den ungeheuerlichen Metzen vom Port-au-Bled oder aus der Rue Planches Mibrai über die Schauspielerinnen der Oper oder der Comédie-Française, die den Herzögen und Marquis zur Zerstreuung dienten, bis zu den ausgehaltenen Mädchen, die, vor Blicken geschützt, gehegt und gehätschelt wurden. Der größte Teil von ihnen jedoch vegetierte in den Gassen des Stadtzentrums und in schäbigen Bordellen vor sich hin oder brachte durch seine Dienste mit Ach und Krach die Miete für ein möbliertes Zimmer auf. Würde man die Prostitution verbieten, würden zwanzigtausend von ihnen im selben Monat an Hunger sterben. Wasserträger, Eisen- und Grobschmiede oder Kleinkrämer bildeten die Kundschaft dieser berüchtigten, abstoßenden Gorgonen. Manche prostituierten sich nur im Winter, wurden von den Libertins frequentiert, die von der stillen Jahreszeit gelangweilt waren, sich aber ihre Extravaganzen gönnen wollten, ohne sich in eine Kurtisanin zu vernarren. Manche waren unabhängig, andere wohnten in den Pariser Bordellen oder arbeiteten ohne Scheu zwischen Kabaretts und Gassen, wo sie ihren Gewinn rasch und entschlossen einsteckten, niedere Huren schließlich irrten an den schändlichsten Orten herum, wo sie von einer mittellosen Kundschaft geschätzt wurden, denen sie Geschlechtskrankheiten übertrugen.
    Da sämtliche Zimmer besetzt waren, kam man auf Fürsprache Emmas überein, Gaspard ein Bett in einem Raum des zweiten Stocks zu überlassen, in dem bereits drei Jungen wohnten. Zwei von ihnen waren Ausländer und sprachen nur schlecht Französisch, alle aber brüsteten sich stolz mit einem Vornamen des Landes. Im Erdgeschoss und im ersten Stock lebten Mädchen, Gelegenheitsdirnen, die er bald kennenlernen sollte. Sie stellten sich mit ihrem Namen vor, der in Wahrheit nicht der ihre war, doch war dies unwesentlich, niemand wusste mehr, wer er war. Niemand äußerte je ein Wort über das Leben vor dem Bordell, und wenn aus Versehen ein Ereignis, irgendeine Kleinigkeit bei einem von ihnen eine Erinnerung weckte, waren sie wie vor den Kopf geschlagen, zweifelten daran, dass es wirklich mit ihnen zu tun hatte, so fremd war ihnen dieses Kind oder dieser Jugendliche, der sie einmal gewesen waren. Gaspard merkte nach einigen Tagen, dass er sich die Vornamen, mit denen sich die Jungen und Mädchen ausstaffiert hatten, unmöglich merken konnte. »Wenn ich«, verteidigte er sich, »eure richtigen Namen kennen würde, könnte ich mich bestimmt besser erinnern.« Die anderen schüttelten betrübt den Kopf, als entginge Gaspard etwas Offensichtliches: Niemand hätte sich unter seinem Namen wiedererkannt, denn niemand war mehr die Person von damals. Ständig verwechselte er sie, was ihm eine Abfolge von vorwurfsvollen oder spöttischen Blicken eintrug.
    Das Zimmer ging auf die Straße hinaus. Die zerwühlten Betten, auf die die Jungen ihre Kunden führten, wurden von einem blinden Fenster erhellt. Der Raum war vom hartnäckigen Geruch ihres Schweißes beherrscht, von dieser Ausdünstung, die alle hinter sich herzogen, eine abstoßende Mischung, von Dutzenden von Kunden auf den Betten hinterlassen. Der Raum gefiel ihm besser als der Keller des Ateliers. Er konnte die Geräusche der Straße hören, deren Treiben ihn immer wieder von Neuem bezauberte. Wenn er auf den Schlaf wartete, ließ er sich wiegen vom Atem der Jungen, von einem Schnarchen, dem Vorbeifahren der Droschken, dem Bellen von Hunden. Die Laute von außen beruhigten ihn: Gaspard kam sich lebendig vor. Jeden Abend versammelten sich die Bewohner in der gemeinsamen Küche.

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