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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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paar Schritte zurück Richtung Tür. »Bist nicht gerade geschwätzig … Umso besser, mir ist auch nicht ums Reden.« Dann stieg sie die Treppe hoch, die unter ihren Schritten knarrte. Die schmutzigen Falten ihres Kleides verschwanden in der Dunkelheit des Stockwerks. Da er zu erschöpft war, um zu antworten, und die Tür bereits wieder zugefallen war, beschloss er, ihr zu folgen. Auf den Stufen kam ihnen ein ungepflegter Junge entgegen. Er grüßte die Hure, drückte sich an die Wand, um Gaspard vorbeizulassen, und musterte ihn mit einem Blick, in dem ein Leuchten war, das zwischen Verachtung und dem Ausdruck einer verwirrten Lust schwankte. Als sie den Treppenabsatz erreicht hatten, sagte das Mädchen: »So hässlich bist du gar nicht«, und schien erleichtert. Aus den anderen Zimmern – er zählte sechs oder sieben – waren Schreie, Lachen und Röcheln zu hören, doch die Dirne schien daran gewöhnt zu sein und zeigte nichts als Abgespanntheit, eine plötzliche Müdigkeit, als sie den wiedergefundenen Schlüssel ins Schloss einer Tür am Ende des Flures steckte. Da das Zimmer im Dunkeln lag, blieb Gaspard stehen und wartete, dass sie ein paar Kerzen oder eine Lampe anzündete. Er erinnerte sich an seine Ankunft bei Lucas und schluckte: »Ist das«, fragte er, »ein Freudenhaus?« – »Das ist kein Bordell, niemand nimmt uns aus, wir haben keinen Zuhälter. Wir sind hier freie Menschen.« Sie lachte übertrieben auf. Als der Docht einer Öllampe den Raum erleuchtete, sah Gaspard nur die raschen Bewegungen ihres Kleides. Das Zimmer war trist, hässlich, mit einem Bett, zwei Stühlen und einem Tisch ausgestattet. Das Mädchen stellte sich vor Gaspard, stützte die Hände in die Hüften und schaute ihn herausfordernd an: »Oder seh ich etwa nicht frei aus?« Er nickte, und sie sah ihn erwartungsvoll an, bevor sie sich zum Bett drehte und die Laken zurechtzog. Sie redete ununterbrochen, mit einer gespielten Fröhlichkeit: »Wir gehen natürlich anschaffen, also kommt es fast auf dasselbe heraus. Aber ein Bordell, das nein. Ich lasse mir die Früchte meiner Arbeit von keinem stehlen. Im Übrigen ist es nicht mein einziges Talent, ich bin nicht als Hure geboren, hab nur nie was andres gefunden. Aber ich kann tanzen und nicht mal schlecht, das kannst mir mal glauben, findest keine Zweite, die so gerne tanzt wie ich. Wundere dich also nicht, wenn du mich eines Tages auf ’ nem Plakat siehst. Ja, ich könnte wirklich Tänzerin werden. Dann kannst mich sehen kommen, wenn du willst.« – »Ja«, sagte Gaspard, der die Vorstellung absurd fand. Von der Decke bröckelte der Gips, und an manchen Stellen war der Fußboden eingedellt. »Lauf da nicht drüber«, sagte das Mädchen, »sonst musst du einen Stock tiefer schlafen.« Sie ließ sich aufs Bett fallen und seufzte vor Erleichterung oder vor Verzweiflung. Die hinter dem Nacken verschränkten Arme entblößten ihre durchsichtige Haut. Ihre Achseln leuchteten genauso rot wie die Haare, die sich über das Kopfkissen ausbreiteten. Sie betrachtete ihn ungläubig, dann rief sie aus: »He! Du bist vielleicht schüchtern, komm mal her!« Sie klopfte auf die Matratze neben sich, eine Staubwolke aufwerfend. »Ich sollte besser gehen, Madame«, antwortete Gaspard und legte eine Hand auf den Türgriff. »Gehen? Aber du hast ja noch gar nichts getan!«, rief der Rotschopf. »Ich habe auch nicht die Absicht gehabt«, verteidigte sich Gaspard. »Bist mir allerdings gefolgt, also hast du wohl etwas vorgehabt.« – »Ich glaubte … Sie haben mich an der Hand genommen … Ich dachte … Mir war kalt.« – »Hast also kein Geld?«, fragte das Mädchen, neugierig geworden. »Keinen einzigen Sou, Madame«, sagte Gaspard. Sie schwiegen, er auf der Türschwelle, zur Flucht bereit, sie auf dem Bett, in ein Stoffmeer versunken. »So hat mich noch keiner genannt«, sagte sie nachdenklich. Dann, als Gaspard sich anschickte zu gehen, fragte sie: »Hast du noch nie eine Frau geliebt?« – »Nein«, sagte Gaspard. »Und einen Kerl?« – »Nein«, verteidigte er sich. Er wusste, dass er sich durch seine Eile verraten hatte. »Oh«, sagte sie nach einem kurzen Schweigen, während ihre Hand die Falten auf dem Laken glättete, »ich auch nicht … Ich glaube, ich habe noch nie einen Mann geliebt.« Sie forderte ihn mit einem Zeichen auf, die Tür zu schließen und sich neben sie zu legen. Der Vorschlag kam so unerwartet, dass er ohne nachzudenken die Tür hinter sich zuwarf, aufs Bett zuging und

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