Die Erziehung - Roman
Montmartre. Aus einer dunklen Ecke kam eine Dirne hervorgeschossen und sprach ihn an. Im Schein einer Öllaterne, die einen Lichtkreis auf den Boden warf, erschienen ihre weiße Haut und ihr roter Schopf. Er wollte weitergehen, verärgert, dass man ihn schon wieder belästigte, doch das Mädchen wurde fordernder, packte ihn am Handgelenk und versuchte ihn mit sich zu ziehen. »Na los«, sagte sie, »komm schon, ich hab ’n Zimmer.« Gaspard hatte überhaupt keine Lust, dem Mädchen zu folgen, keinen einzigen Sol mehr in der Tasche, und ihm graute bereits vor dem Missverständnis, das es zu klären geben würde, doch die Hand, die seine hielt, war sanft und bestimmt. Sie verdrängte schließlich seine Ängste, und die Vorstellung, sich in einem Zimmer wiederzufinden, war verlockender als die Aussicht, ins Châtelet abgeführt zu werden. Das Gesicht des Mädchens hatte im Dunkeln etwas Vertrautes, und er versuchte sich einzureden, dass ihre Geste nichts Eigennütziges habe, dass sie es zulassen würde, sich an sie zu drücken, da sie ihn nicht kannte. An Kunden gewöhnt würde sie für seinen Körper keinen Abscheu empfinden. Unter ihrem schmutzig rosa Kleid erriet er ihre Formen. Sie bestärkten ihn darin, dass es in dieser Unbekannten Wohlwollen ihm gegenüber gab, ihm war, als ob dieses Fleisch für ihn geformt worden wäre. Mehr noch als den Hunger, die Kälte, spürte Gaspard das Bedürfnis nach einer Berührung, die ihm das Gefühl gäbe, noch immer ein Mensch zu sein. War er nicht, seit man ihn nicht mehr anfasste, dem Verschwinden preisgegeben? Der Gedanke erschreckte ihn. Etienne hatte ihn so gnadenlos verstoßen, dass Gaspard das Gefühl hatte, für die Augen der Welt unsichtbar zu sein. Er musste, um sich zu beruhigen, die Hände eines menschlichen Wesens auf sich spüren. So wüsste er, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick, dass er in den Augen der anderen wirklich existierte. Dieses lüsterne Mädchen erfüllte den Zweck. Aber ist sie , dachte er, die jeden Tag von Dutzenden anonymen Händen berührt wurde, nicht eher ein Geist, der in diesen Gassen herumspukt? Existiert sie nicht noch weniger als ich in dieser Welt? Er hörte auf zu denken, denn die Dirne zog ihn noch immer im Laufschritt vorwärts, und er hatte nicht die Kraft zu kämpfen. Ihre Schuhe versanken im Schnee, rutschten auf dem Eis aus, manchmal stolperte sie, klammerte sich an ihn, packte ihn an der Schulter oder am Arm, presste die feuchten Unterröcke ihres Kleides an sein Bein, lachte schallend. Das Lachen klang falsch, und das Echo, das die Häuserfassaden zurückwarfen, machte es noch grausamer. Gaspard wollte sie zum Schweigen bringen, denn es hatte für ihn etwas Erschütterndes, wie sie durch das Innerste von Paris und die unbarmherzige Nacht taumelten. Da gab es nichts zu lachen, dieses Rutschen war in seinen Augen dramatisch, genauso tragisch wie die Gründe ihrer Begegnung. Wie konnten sie überhaupt, ohne sich im Geringsten zu kennen, diese übertriebene Vertrautheit zur Schau stellen, als würden sich ihre Umarmungen durch jahrelange Nähe rechtfertigen? Er schwieg jedoch verlegen, und während sie weiterstakten, wurde das Lachen nach und nach erträglicher, das Parfüm des Mädchens – eine billige Rosenessenz – angenehm. Schließlich bog sie in die Rue du Bout-du-Monde, ging auf die Tür eines Hauses zu. Zwei Männer kamen heraus, glotzten sie ungeniert an. Das Mädchen beachtete sie nicht und trat in einen Flur, von dem vier Zimmer abgingen, ehe er am Ende in einen Hof führte. Solange sie in ihren Taschen nach einem Schlüssel suchte – Gaspard erahnte ihre Trunkenheit anhand ihrer fiebrigen Bewegungen –, trat er hinaus, betrachtete den schwarzen Himmel hoch über den Dächern. Er zog die Decke noch enger um sich, warf einen Blick auf das Mädchen, das im Flur vor sich hin wetterte, fand sie vulgär, drehte sich weg und biss sich auf die Lippe. Im Hintergrund des Hofes befand sich ein zweites Gebäude, und er sah durch die dreckigen Fenster ein Feuer brennen. Er schrak zusammen, als ein Hund an ihm schnupperte. Er stieß ihn mit dem Fuß zurück und hatte es eilig, in den Flur zurückzukehren. Das Mädchen wartete schon. Da an der Wand eine Fackel brannte, betrachtete sie ihn im Licht etwas genauer, und ihr Ausdruck änderte sich. Gaspard begriff, dass sie ihn schmutzig fand, hässlich bestimmt. »Hast den Abtritt gefunden, Schätzchen?«, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern, antwortete nicht, trat ein
Weitere Kostenlose Bücher