Die Essenz der Lehre Buddhas
etwas als anziehend wahrgenommen wird. Begehrenswert kann etwas nur sein, wenn jemand da ist, der es begehrenswert findet – nichts kann in sich selbst begehrenswert sein. Nur wenn mir etwas wünschenswert erscheint, wünsche ich es mir. Entsprechend gilt: Wenn etwas als nicht anziehend oder als abstoßend wahrgenommen wird, entsteht Widerwille, der sich zu Ärger und sogar Feindseligkeit entwickeln kann. Alle diese starken Gefühlsregungen entspringen letztlich einem »Ich«, das an einem Objekt etwas Anziehendes oder Abstoßendes zu erkennen glaubt.
Da unsere Erfahrungen mit geistigen Plagen wie Begehrlichkeit und Widerwille, Stolz und Eifersucht damit zu tun haben, dass wir die Dinge anziehend oder abstoßend finden, können solche Plagen nicht mehr auftreten, wenn diese Vorstellung eines eigenständigen Ichs ausgeräumt ist. Gelingt es uns jedoch selbst in tiefer Meditation nicht, die irrige Vorstellung eines Ichs aufzulösen, werden die Plagen doch wieder in uns wach werden und uns weitere Leiden bescheren.
Der Buddha lehrte manches, was wir üben können, damit das Glück in unserem Leben zunimmt, etwa Großzügigkeit gegenüber anderen und Freude an ihren guten Eigenschaften. Da wir jedoch selbst damit nicht direkt etwas gegen unser fehlgeleitetes Festhalten an der Ich-Vorstellung ausrichten, kann uns das Gute, das aus solchem
Verhalten erwächst, nicht das höchste Glück verschaffen: Freiheit vom Leiden. Nur die Erkenntnis der Ichlosigkeit, die unserer unwissenden Ich-Anhaftung direkt entgegenwirkt, kann das erreichen.
Es ist ganz wichtig, dem Wesen der Phänomene durch tiefes Studium und kritische Analyse auf den Grund zu gehen. Nur so erkennen wir, dass alle Phänomene ohne eigenständiges, identifizierbares Selbst-Wesen sind. Wenn wir dann unser Verständnis der Ichlosigkeit in der Meditation vertiefen, werden wir schließlich wahre Befreiung finden – Nirwana.
Kontinuität und Veränderung
Sehen wir uns einmal die Elemente an, die gegeben sein müssen, damit von der Existenz eines Ichs gesprochen werden kann. Wenn wir uns als Menschen bezeichnen, setzt diese Identität einen menschlichen Körper und einen menschlichen Geist voraus. Das Kontinuum des Ichs, zusammengesetzt aus lauter Ich-Augenblicken, beginnt mit der Geburt oder Empfängnis und endet mit dem Tod.
Würden wir uns nicht als Menschen, sondern lediglich als »ich« oder als »einfach ich« sehen, hätte dieses Ich dann einen Anfang und ein Ende? Wir können in unsere Vergangenheit zurückblicken und »als ich jung war« zu oder »als ich erwachsen war« oder »als ich in meinen
mittleren Jahren war« sagen. Dann identifizieren wir uns mit jeder dieser Lebensphasen, zugleich aber auch mit dem Gesamtzusammenhang, mit dem Kontinuum, das alle diese Phasen umspannt. Es fällt uns leicht, unser Ich-Gefühl von der Gegenwart in die Vergangenheit zu verlagern oder in allen Phasen eines Lebens zugleich zu sehen. Könnte dieses »einfach ich« auch über die Grenzens dieses Lebens hinausgehen?
Unseren Geist oder unser Bewusstsein erleben wir sogar noch eher als »einfach ich« als unseren Körper. Unser Geist ist etwas Flüchtiges, er existiert Moment für Moment, und jeder Bewusstseinsaugenblick beeinflusst den nächsten. Auf diese Art entwickeln sich unsere Gedanken und Gefühle mit der Zeit. Veränderung gibt es sogar in der Welt der fest gefügten Dinge. Der majestätische Himalaja wirkt auf uns so fest und dauerhaft, aber würden wir diese Berge über einen Zeitraum von Jahrmillionen betrachten, wir würden ganz sicher Veränderungen feststellen. Wenn es so langfristige Veränderungen gibt, muss sich auch in einem Zeitraum von hundert Jahren etwas ändern. Und wenn sich in hundert Jahren etwas ändert, muss sich von Jahr zu Jahr etwas ändern, und auch das ist nur denkbar, wenn von Monat zu Monat und in immer kleineren Intervallen unmerklich kleine Veränderungen stattfinden – Minute für Minute, Sekunde für Sekunde und in noch so kleinen Zeitabschnitten. Diese winzigen Veränderungen summieren sich schließlich zu etwas, das wir wahrnehmen.
Zu solchen Augenblicksveränderungen kommt es naturgemäß bei allem, was entstanden oder hervorgebracht worden ist, es bedarf keiner weiteren Ursache.
Es gibt Ursachen, die da enden, wo ihre Wirkung einsetzt. Sie verwandeln sich gleichsam in ihre Wirkung wie ein Same in einen Keim. Der Same ist die substanzielle Ursache für den werdenden Keimling. Es gibt weitere Ursachen und Bedingungen, die
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