Die Essenz der Lehre Buddhas
als Begleitfaktoren wirksam werden, etwa Wasser, Nährstoffe und Sonnenlicht, die zum Keimen des Samens beitragen. Wenn wir unseren Körper als Beispiel nehmen, können wir das Kontinuum der Augenblicke, die zu unserem gegenwärtigen Körper geführt haben, bis zum Beginn dieses Lebens im Augenblick der Zeugung zurückverfolgen. Diesen Augenblick nennen wir »das, was Mensch wird«.
Unser jetziger Körper lässt sich also auf seine substanzielle Ursache oder den Augenblick der Zeugung zurückverfolgen und darüber hinaus Augenblick für Augenblick immer weiter zurück bis zum Beginn des Universums und der feinstofflichen Materie, die zu der Zeit existierte. Aus buddhistischer Sicht können wir das Kontinuum der substanziellen Ursachen, die unserer Zeugung vorausgingen, über den Urknall hinaus bis in die große Leere zurückverfolgen. Auf diesen Gedankengang hin, der uns noch hinter den Urknall zurückführt, müssen wir wohl einräumen, dass das Kontinuum der substanziellen Ursachen für irgendein bedingtes Phänomen keinen ersten Augenblick haben kann.
Geistige Phänomene haben ebenso wie materielle Dinge ihre substanziellen Ursachen und mitwirkenden Umstände. Unsere Empfindungen, Gedanken und Gefühle bilden zusammen unser Bewusstsein und haben substanzielle Ursachen, durch die es zu bestimmten Wahrnehmungen kommt, und daneben gibt es mitwirkende Faktoren, die körperlicher oder geistiger Art sein können.
Die Grund-Kennzeichen unseres Bewusstseins sind Klarheit und Wissen. Dieses reine lichtvolle Wissen kann nicht von physischen Bedingungen erzeugt werden. Nach buddhistischem Verständnis der Kausalität müssen eine substanzielle Ursache und ihre Wirkung von gleichem Wesen sein. Etwas Physisches kann deshalb nicht substanzielle Ursache eines Bewusstseins-Augenblicks sein, weil Klarheit und Wissen ihrer Natur nach nicht physisch sind.
Betrachten wir die bewusste Wahrnehmung. Wenn wir einen Baum sehen, handelt es sich um eine Wahrnehmung, die letztlich geistiger Natur ist. Der Baum und unsere körperlichen Augen sind an unserer bewussten Wahrnehmung des Baums als mitwirkende Umstände beteiligt. Die substanzielle Ursache für unsere geistige Erfahrung des Baums besteht im unmittelbar vorausgehenden Augenblick der Klarheit und des Wissens. Dieser vorausgehende Bewusstseinsaugenblick gibt unserer visuellen Erfahrung des Baums den Charakter der Klarheit, des reinen Erkennens. Jeder Augenblick der Klarheit und des Wissens im Kontinuum unseres Bewusstseins wird
vom vorhergehenden Augenblick der Klarheit und des Wissens herbeigeführt. Die substanzielle Ursache eines Bewusstseinsaugenblicks kann unmöglich etwas sein, das von grundsätzlich anderer Qualität als Klarheit und Wissen ist.
Hätte das Kontinuum unseres Geistes einen ersten Augenblick gehabt, müsste es zu diesem Augenblick entweder ohne eine Ursache gekommen sein oder aufgrund einer Ursache, die in ihrer Substanz von der Natur des Geistes verschieden ist. Da beide Möglichkeiten unbefriedigend sind, wird davon ausgegangen, dass das Kontinuum des Geistes keinen Anfang hat. So erklären wir auch frühere Leben und Reinkarnation: Das Kontinuum der Bewusstseinsaugenblicke muss sich unendlich weit in die Vergangenheit erstrecken. Und wenn das Bewusstseinskontinuum keinen Anfang hat, kann auch die ihm zugeordnete Ich-Identität keinen Anfang haben. Dafür sprechen auch die vielen Berichte von Menschen, die sich an Erfahrungen in früheren Leben erinnern.
Wie steht es dann mit dem Ende des Bewusstseins? Manche buddhistische Gelehrte der Vergangenheit haben die Ansicht vertreten, wenn das Nirwana erreicht sei, erreiche das Kontinuum des körperlichen und geistigen Daseins sein Ende. Das zwingt jedoch zu der absurd erscheinenden Schlussfolgerung, dass dann niemand mehr da ist, der diesen Nirwana-Zustand erfährt. Die individuellen Bewusstseinsmomente unseres verkörperten Daseins – alle sinnlichen Wahrnehmungen und Gedankenprozesse –
enden mit dem Tod. Aber die Grundqualitäten der Klarheit und des Wissens, der essenzielle Kern des Bewusstseins, werden nicht gelöscht, wenn wir sterben – dieses Kontinuum kennt kein Ende.
Es gibt darüber hinaus einen feinstofflichen Körper, von dem in den Vajrayana- oder Tantra-Lehren des Buddha die Rede ist und den wir als den Träger unseres subtilsten Bewusstseins betrachten können. Wenn dieses subtile Bewusstsein ein Kontinuum ohne Anfang und Ende ist, muss auch das Kontinuum des subtilsten Aspekts unserer
Weitere Kostenlose Bücher