Die Essenz der Lehre Buddhas
vielleicht ganze Leben zur Erkenntnis der eigenen Ichlosigkeit gelangt. Wir werden das im nächsten Kapitel noch näher betrachten.
Nagarjuna, der große Wegbereiter des Mahayana und Begründer der Schule des Mittleren Weges, befand, dass wir unser Festhalten an einem Ich-Gefühl so lange nicht vollständig auflösen können, wie wir noch glauben, die Daseinsgruppen, aus denen wir bestehen, besäßen so etwas wie eigenständiges, natürliches Sein. Diese Gruppen oder Anhäufungen bestehen selbst wieder aus kleineren Teilen und geistigen Erfahrungen, von denen wir unser Ich-Gefühl ableiten. Um zu tiefer Einsicht in die Ichlosigkeit der Person, das heißt unserer selbst zu kommen, müssen wir nach Nagarjunas Worten erkennen, dass auch
alle Phänomene und damit die Bestandteile unserer Person ohne solch einen Kern von Selbst-Wesen sind. Verneinung eines in uns selbst liegenden Seins und Verneinung eines in den Phänomenen liegenden Seins sind nach Nagarjuna dasselbe. Wenn wir das eine erkannt haben, gibt es uns den Anstoß, das Gleiche auch beim anderen zu erkennen.
Wenn wir verstanden haben, dass es nirgendwo ein innewohnendes Sein gibt, wirkt sich das zwangsläufig auf unsere intuitive oder instinktive Wahrnehmung aller Dinge aus. Wenn wir beispielsweise »diese Form« oder »dieser Gegenstand« sagen, haben wir das Gefühl, dass wir das jeweilige Objekt wahrnehmen, wie es tatsächlich ist – als gäbe es da etwas, worauf sich das Wort »Gegenstand« bezieht, und als repräsentierte unsere Wahrnehmung wirklich das, was wir da vor uns haben. Wenn wir die Leerheit wirklich erfassen wollen, müssen wir bis zu dieser Wahrnehmungsebene vordringen, sodass wir uns dann nicht mehr an die Vorstellung eines objektiven, in den Dingen selbst liegenden Seins klammern.
Solange wir der uns umgebenden Welt objektive Wirklichkeit zuschreiben, sagt Nagarjuna, versorgen wir allerlei Gedanken und Gefühlsregungen wie Anhaftung, Feindseligkeit und Zorn immer weiter mit Nahrung. Die von den Hinayana-Schulen des buddhistischen Denkens angestrebte Erkenntnis der Ichlosigkeit ist für Nagarjuna noch nicht die vollständige Umsetzung dessen, was der
Buddha über Ichlosigkeit lehrte, weil immer noch Spuren eines Festhaltens bleiben – des Festhaltens an der Vorstellung, es gebe so etwas wie unabhängige, objektive, innewohnende Realität. Wir müssen uns an diese subtilste Bedeutung von »Leerheit« herantasten, nämlich Leere als das Fehlen von innewohnendem Sein, um die grundlegende Unwissenheit auszuräumen, die uns im Samsara festhält.
Die Leerheit des Ichs
In seinem Werk Zum Lob des Dharmadhatu (Zum Lob der Sphäre des Dharma) sagt Nagarjuna:
Meditationen über Vergänglichkeit
und Überwindung des Festhaltens an Dauerhaftigkeit
sind Elemente der geistigen Schulung.
Die höchste geistige Läuterung jedoch
wird durch Einsicht in die Leerheit erreicht.
Nagarjuna definiert Leerheit als das Nichtvorhandensein von innewohnendem Sein oder Eigenexistenz.
Wohlbekannt sind die geheimnisvollen Worte des Buddha im Herz-Sutra :
Form ist leer, Leere ist Form.
Etwas klarer ist diese knappe Aussage im Sutra der Vollkommenen Weisheit in 25.000 Versen gefasst:
Form ist nicht leer von Leerheit,
Form ist selbst diese Leerheit.
Die erste Zeile besagt, dass das, was im Hinblick auf Form negiert wird, nichts anderes als ein ihr selbst innewohnendes Sein ist. In der zweiten Zeile führt der Buddha eigentlich die nach herkömmlichem Verständnis existierende Form ein, die vorhanden ist, weil sie kein in ihr selbst liegendes Sein besitzt. Wenn wir das innewohnende Sein der Form negieren, erscheint die Form selbst. Eben durch die Nichtexistenz – die Leerheit – einer innewohnenden essenziellen Formhaftigkeit kann die Form existieren.
Wie der Buddha sagte, kann es ohne die Erkenntnis, dass das Ich leer von in ihm selbst liegendem Sein ist, keine Befreiung aus unserer leidvollen Lage geben. Selbst tiefste Meditation in absolut gesammelter Versenkung und frei von jeglicher Ablenkung durch sinnliche Erfahrung kann unser Haften an einem Ich-Gefühl nicht vertreiben. Früher oder später wird aus diesem Festhalten am Ich doch wieder von den geistigen Plagen geprägte Erfahrung. Diese Heimsuchungen werden uns zu Handlungen verleiten, die weiteres Handeln nach sich ziehen, und wir werden weiterhin Leid in diesem zyklischen Dasein erfahren.
Hätten wir kein Ich-Gefühl, gäbe es keinen Anlass zu Anhaftung und Widerwille. Zum Haften kommt es, wenn
Weitere Kostenlose Bücher