Die Essenz der Lehre Buddhas
möchten.
Kapitel 3
Die Schulen des Buddhismus
V ielfach werden zwei große Richtungen oder Hauptschulen des Buddhismus unterschieden, Hinayana und Mahayana oder das Kleine und das Große Fahrzeug. Im Hinayana oder Kleinen Fahrzeug strebt man nach Befreiung vom leidvollen Dasein in den Zyklen der Wiedergeburt – und da befinden wir uns alle. Wer in der Tradition des Hinayana steht, bemüht sich um seine eigene Befreiung von den Fesseln des Samsara. Im Mahayana oder Großen Fahrzeug geht es darum, Buddhaschaft zu erlangen, das heißt den Zustand der vollkommenen Erleuchtung und All-Erkenntnis. Ein Mahayanist möchte diesen höchsten Erleuchtungszustand erreichen, um allen anderen Lebewesen aus ihrem Unglück heraushelfen zu können.
Manchmal wird noch von einem dritten Fahrzeug gesprochen. Zur Praxis des Vajrayana oder Tantrischen Fahrzeugs gehören Mantra-Rezitationen und hoch entwickelte Methoden der Visualisation und Konzentration, durch die man ein höchst subtiles Bewusstsein entwickelt, das einen auf dem Weg zur vollen Erleuchtung schneller voranbringt. Da die Meditationstechniken des Vajrayana jedoch auf das Erlangen der Buddhaschaft zum Nutzen aller Lebewesen zielen – und das sind die Bewusstsein und Ich-Gefühl besitzenden Wesen in ihrer
unendlichen Vielfalt, darunter alle Menschen und Tiere –, gehört dieses Fahrzeug letztlich zum Mahayana.
Bedauerlicherweise setzen die Texte des tibetischen Buddhismus oft voraus, dass der Leser bereits mit dem Buddhismus vertraut ist. Traditionelle buddhistische Texte gehen also davon aus, dass ein Praktizierender die Begriffe Karma – das Gesetz von Ursache und Wirkung – und Leere oder Leerheit kennt. Nur wer diese Dinge bereits versteht, kann mit der buddhistischen Betrachtungsweise vieler anderer Themen etwas anfangen, etwa mit dem Gedanken der Kostbarkeit des menschlichen Lebens, mit der Unausweichlichkeit des Todes und dem relativen Charakter weltlicher Kenntnisse. Solange wir diesen Hintergrund und Zusammenhang nicht haben, wird unsere Meditation über diese Themen von begrenztem Nutzen sein. Das gilt ganz besonders für die Praxis des Vajrayana. Wir können uns von tantrischen Einweihungen und täglicher tantrischer Praxis nicht viel versprechen, wenn wir nicht wirklich wissen, weshalb wir eigentlich praktizieren. Viele tibetische und chinesische Buddhisten verbringen viel Zeit mit Mantra-Rezitationen und Gebeten, denken sich aber nicht viel dabei. Ich halte diesen Ansatz nicht für sehr ergiebig. Wenn buddhistische Praxis etwas ausrichten soll, müssen wir die buddhistischen Lehren verstanden haben. Ohne das sind wir nicht wirklich Praktizierende des Buddhismus.
Es gibt eine weitere Unterscheidung von Hinayana und Mahayana, die von philosophischen Grundsätzen ausgeht.
Wir werden uns in diesem Buch nun vier Schulen buddhistischer Philosophie ansehen – Vaibhashika, Sautrantika, Cittamatra und Madhyamika –, die ersten beiden gehören zum Hinayana, die beiden anderen zum Mahayana.
Diese beiden Unterscheidungen von Hinayana und Mahayana – die eine aufgrund der Motivation, die andere nach philosophischen Anschauungen – lassen eine ganze Reihe von Mischformen zu. Nehmen wir einen praktizierenden Buddhisten, den seine große Liebe zu allen Wesen und sein Mitgefühl bewegen, nach Buddhaschaft zu streben, um so allen Wesen am besten dienen zu können. Diese Haltung kennzeichnet ihn oder sie als einen Bodhisattwa, als jemanden, der Bodhicitta hat, den selbstlosen Erleuchtungsgeist. Das macht diesen Menschen zum Mahayanisten. Sollte dieser Mahayanist jedoch die philosophischen Anschauungen der Vaibhashikas oder Sautrantikas vertreten – nach deren Auffassung wir zwar vergänglich sind und uns jeden Augenblick ändern, aber im Kern eben doch ein wahrhaft existierendes Ich mit geistigen und körperlichen Anteilen besitzen –, so müsste man von diesem Menschen sagen, er oder sie teile die Anschauungen des Hinayana.
Ein anderer könnte vielleicht der Madhyamika-Philosophie des Mahayana anhängen, nach der in allen Phänomen auch nicht die feinste Spur von objektivem Sein anzutreffen ist, während seine spirituelle Praxis möglicherweise die Zielsetzung des Hinayana hat, nämlich von
den endlos wiederholten Leiden des zyklischen Daseins frei zu werden.
Unsere Beweggründe entscheiden also, ob wir Hinayanisten sind und uns selbst retten wollen oder Mahayanisten, die allen Lebewesen helfen möchten. Ganz unabhängig von unseren hinayanistischen oder
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