Die Evangelistin
mich herein. Wir beide wurden auf unser Zimmer verbannt. In der Weihnachtsnacht! Kann man einem Kind etwas Schlimmeres antun?
Meine Geschwister starrten entsetzt hinter uns her, als Alexandros und ich zu unseren Räumen hinaufschlichen. Ich brachte meinen Bruder in sein Zimmer und schloss ihn ein, wie es mein Vater befohlen hatte. Dann verschwand ich in meiner Gefängniszelle und zog leise die Tür hinter mir zu.
Niemand kam, um nach mir zu sehen oder mich zu trösten. Niemand erschien, um mich zur Heiligen Messe abzuholen. Mein Vater geruhte nicht einmal, die Treppe heraufzukommen, um die Tür zu versperren. Ich blieb allein und lauschte traurig auf das Schluchzen meines Bruders im Nachbarraum.
Meine Tasche für die geplante Flucht hatte ich schon Wochen zuvor gepackt! Entschlossen zog ich das Bündel mit meinen Schätzen unter dem Bett hervor, dann schlich ich aus dem Haus, während meine Familie in der Kirche war. Ich bin nie wieder zurückgekehrt.«
»Wie alt warst du?«
»Dreizehn.«
»Du hast dich allein durchgeschlagen?«
»In Istanbul habe ich für muslimische Gelehrte Bücher abgeschrieben und illustriert. Da ich kein Geld hatte, um mir eine kleine Werkstatt einzurichten, wohnte ich bei ihnen, während ich für sie arbeitete. Den Koran habe ich mehrmals kopiert – inzwischen kenne ich die Suren auswendig.« Er lächelte verschmitzt. »In den Nächten, wenn meine Arbeit in den Bibliotheken beendet war, las ich die arabischen Bücher. Die Gelehrten dachten wohl, ich würde eines Tages zum Islam konvertieren.
Als ich achtzehn war, bewarb ich mich als Sekretär beim Patriarchen. Er war wie ein Vater für mich. Bei ihm fand ich die Anerkennung und die Liebe, die mir Demetrios Palaiologos nicht schenken konnte. Sehr feinfühlig spürte er, was in mir vorging.
Ich wollte lernen, einen Schatz an Wissen sammeln, ein Gelehrter werden, ein Priester, ein vollkommener Mensch – wie mein geliebter Iesous Christos. Ich wollte ein Mensch sein, der um seiner selbst willen geachtet und geliebt wird, weil er liebenswert ist, nicht, weil er wie eine goldschimmernde Ikone dem Ideal seines in Illusionen schwelgenden Vaters entspricht. Mein Vorbild war kein Kaiser aus dem Geschlecht der Palaiologoi, sondern Friedrich II . von Hohenstaufen, ein Genie mit brennendem Interesse für die Kunst und die Wissenschaften aller Kulturen.
Tag und Nacht lernte ich, bis die lateinischen, griechischen und arabischen Buchstaben vor meinen Augen verschwammen und ich über den Büchern einschlief.
Die Suche nach der Wahrheit jenseits aller Illusionen war mein höchstes Ziel. Doch was war die Wahrheit? Ich las die Bibel und den Koran, wühlte mich durch die griechischen Philosophien von Sokrates und Platon, studierte die Schriften der arabischen Mystiker, rang nächtelang mit Thomas von Aquino, fand aber die eine Wahrheit nicht, denn es gibt so viele. Schließlich war ich so verzweifelt, dass ich krank wurde. Ich war körperlich und geistig so erschöpft, dass ich mein Studium für einige Monate unterbrechen musste.
Der Patriarch war sehr besorgt um meine Gesundheit. Er schickte mich auf Reisen, damit ich mich erholen konnte. Und er verbot mir, auch nur ein Buch mitzunehmen. Selbst die Evangelien holte er bei unserem Abschied mit vorwurfsvollem Blick aus meiner Reisetasche. Die Abschriften aus dem ersten Buch von Eusebius’ Kirchengeschichte hat er nicht gefunden, sonst hätte er sie mir wohl auch weggenommen.«
Menandros lächelte verschmitzt.
»Ich reiste nach Ephesos, weil ich mir die antiken Ruinen ansehen wollte. Dann segelte ich an der Küste entlang nach Syrien, um nach dem antiken Edessa zu suchen.«
»Edessa?«, fragte ich überrascht. »Was wolltest du denn dort?«
»In Eusebius’ Kirchengeschichte bin ich auf eine rätselhafte Legende über das Grabtuch Christi gestoßen, das einige Jahrhunderte lang in Edessa aufbewahrt wurde, bevor man es nach Byzanz brachte. In den syrischen Archiven wollte ich nach alten Dokumenten forschen.«
Ganz in meine Gedanken versunken nickte ich.
Jeschuas Grabtuch, die heiligste Reliquie des Christentums, hatte ich fünf Jahre zuvor mit David und Aron mit eigenen Augen gesehen.
Auf der Reise von Paris nach Mailand waren wir durch Chambéry gekommen, die Hauptstadt des Herzogtums Savoyen. Ich hatte den Sekretär der Herzogin Margarete von Habsburg, der Tochter Kaiser Maximilians, gebeten, mir, dem Christen Juan de Santa Fé aus Granada, der auf Pilgerreise nach Rom war, dieses
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