Die Evangelistin
geheimnisvolle Tuch mit dem Abbild des Gekreuzigten zu zeigen.
Welch bewegender Moment, das Bildnis des Menschen zu sehen, der uns so viel bedeutete!
Gebannt hatte ich das Antlitz des Mannes betrachtet, dem ich so viele Jahre meines Lebens gewidmet hatte – als ich die Evangelien ins Arabische übersetzte, als ich mich im Kerker auf die Disputationen mit Kardinal Cisneros vorbereitete und als ich begann, die ersten Notizen für mein Buch aufs Papier zu werfen.
Aber David, der mich als Diego de Santa Fé begleitete, war noch viel aufgeregter als ich, nachdem er das Tuch in der Schlosskapelle so gründlich untersucht hatte, als läge der misshandelte, sich vor Schmerzen windende Körper Jeschuas vor ihm auf dem Tisch. Als Arzt hatte mein Bruder im Kerker von Córdoba genug Gefolterte gesehen – lebendig und tot –, um zu finden, was er suchte.
»Sieh dir das an«, hatte er ausgerufen. »Die dunklen Flecken auf dem Tuch: Das ist wirklich Blut. « Zutiefst erschüttert hatte er mich am Arm gepackt. »Wie sie ihn gequält haben. Sieh dir die Wunden der Geißelung an. Auf den Schultern ist das Blut verschmiert, als hätte er etwas Schweres getragen: den Balken des Kreuzes. Sieh dir die Nägelmale an Händen und Füßen an. Den Lanzenstich in die Seite. Und die Verletzungen durch die Dornenkrone. Du weißt, was das bedeutet. Er hat geblutet! Es ist wahr!«
Ich kehrte wieder in die Gegenwart zurück.
»Hast du in Edessa etwas gefunden?«, fragte ich Menandros.
»Nichts außer ein paar alten syrischen Handschriften.«
Die Suche in Edessa hatte ihm offenbar viel bedeutet – so viel wie mir der Besuch im Schloss von Chambéry!
»Während meiner Rückreise besuchte ich Mistra, Korinth, Athen und – mit Unterstützung des Patriarchen – auch die Mönchsrepublik auf dem Berg Athos«, erzählte er weiter. »Nach monatelangem Umherirren fand ich dort endlich meinen Seelenfrieden. Das Athos-Kloster war für mich das Paradies auf Erden. Nach meiner Priesterweihe in Istanbul gab es für mich nur noch ein Ziel: die Rückkehr zum Berg Athos.
Endlich bestieg ich das Schiff, das mich ins Paradies bringen sollte. Das war vor vier Jahren – ich war damals siebenundzwanzig. Doch das Schiff wurde von ägyptischen Piraten überfallen. Dann wurde ich nach Alexandria verschleppt, um als Sklave verkauft zu werden.«
»Und dort hat Celestina dich gefunden.«
»Auf dem Sklavenmarkt suchte sie nach einem Begleiter für ihre Reise in den Sinai. Sie hat ein Vermögen für mich bezahlt. Auf dem Weg nach Kairo und weiter in den Sinai sind wir uns sehr nahe gekommen.« Er lächelte versonnen. »In den eisig kalten Wüstennächten schlief sie in meinen Armen. Wir schmiegten uns eng aneinander und schenkten einander Wärme und manchmal auch ein wenig Zärtlichkeit. Sie gab mir das Gefühl, lebendig zu sein.«
»Habt ihr miteinander geschlafen?«
»Nein.«
»Dass sie sich nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in Tristans Arme geworfen hat und nicht in deine, hat dich sehr verletzt, nicht wahr?«
Er nickte. »Aber dass sie sich nun in dich verliebt hat, zerreißt mir das Herz.«
»Weil ich ein Jude bin?«
»Nein, das ist es nicht.« Er schien zu überlegen, wie er es mir erklären sollte. Dann sprang er auf und nahm eine Kerze. »Komm mit! Ich will dir etwas zeigen.«
Ich folgte ihm die Treppen hinunter in den nächtlichen Garten.
Er kniete sich vor das Rosenbeet und schob mit beiden Händen die Erde beiseite. Als er eine Elle tief gegraben hatte, legte er ein seidenes Tuch frei.
»Was ist das?«
»Celestina hat es vor einer Woche hier vergraben.«
Andächtig legte Menandros das Tuch auf den Boden. Dann schlug er den Stoff zur Seite.
Mir stockte der Atem:
Eingewickelt in ein Grabtuch lag ein gekreuzigter Jeschua!
Als Celestina im Schlaf leise seufzte, erwachte ich.
Es war noch dunkel. Wie spät mochte es sein? Der Mond war längst untergegangen.
Eng an mich geschmiegt lag sie in meinen Armen. Ihr Gesicht ruhte neben mir auf dem Kissen, ihr langes Haar fiel über ihre nackten Schultern. Tief sog sie den Atem ein und räkelte sich genüsslich.
Dann erst bemerkte ich in der Finsternis den Schatten neben ihr und erschrak.
Menandros saß auf dem Rand des Bettes und beobachtete uns, während wir schliefen.
Sanft strich er ihr über das zerwühlte Haar, als wollte er es ordnen und so die Spuren unseres ausgelassenen Liebesspiels verwischen – Celestina und ich hatten uns nach ihrer Rückkehr aus dem Palacio Grimani sehr
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