Die Evangelistin
ihn. Er küsste sie zart auf die Wange.
Ich ging zu den beiden hinüber. »Das Pferd leidet.«
Der Mann nickte. »Ich werde es töten. Es kann nicht mehr aufstehen. Die Sehnen der Sprunggelenke sind durchtrennt.«
»Lasst mich das machen, Señor!«, bot ich ihm an. »Mein Dolch ist so scharf, dass man damit koscher schlachten kann.«
Ich kehrte zurück zum Pferd, das sich immer noch aufzurichten versuchte, kniete nieder, strich ihm beruhigend über den Hals und sprach den Segen. Dann schnitt ich ihm mit meinem Dolch die Kehle durch. Der Kopf fiel zurück.
Was würde nun geschehen? Mein Leben lag in den Händen dieser beiden Venezianer.
»Wie geht es Euch, Signore – seid Ihr verletzt?«, fragte der Mann besorgt. Er sprach Venezianisch mit einem sehr eleganten Akzent. War er Grieche?
»Ich bin Jude«, erklärte ich und trat einen Schritt zurück, da ich annahm, er hätte den Tallit, der wenige Schritte entfernt in der Gasse lag, in der Finsternis nicht bemerkt.
»Haben denn Juden keine Wunden, wenn sie verletzt werden? Bluten sie nicht? Empfinden Sie nicht denselben Schmerz wie Christen?«
»Doch, Señor, das tun sie«, gab ich zu. »Sie leiden wie alle anderen Menschen.«
Er trat näher, fasste meine Schultern und drehte mich so, dass er im Mondlicht die Wunde sehen konnte. »Ihr seid verletzt und blutet. Lasst mich Euch verbinden. Die Ca’ Tron ist nicht weit von hier. Und helft mir, sie nach Hause zu bringen.«
Während er seinen Hengst einfing, lehnte sie sich gegen mich, und ich hielt sie fest, damit sie nicht stürzte. Sie schenkte mir ein gequältes Lächeln: »Muchas gracias, Señor. Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich kenne nicht einmal Euren Namen.«
»Ich bin Rabbi Elija ben Eliezar Ibn Daud.«
»Es freut mich, Euch kennen zu lernen, Rabbi«, erwiderte sie. »Ich bin Celestina Tron.«
Sie war eine berühmte Gelehrte. Bisher hatte ich keines ihrer Werke gelesen, doch die Humanisten aus Venedig und Padua, die ich freitags im Talmud unterwies, hatten mir von ihr erzählt.
Ich glühte innerlich, und es fiel mir schwer, den Blick von ihr abzuwenden. Sie wirkte so stark und mutig – wie Sarah. Wie würdevoll und gottesgewiss war Sarah gewesen, als sie auf den Scheiterhaufen stieg! Den Blick, den sie mir zugeworfen hatte, denn sprechen konnte sie nicht mehr, würde ich nie vergessen: Ich liebe dich. Stirb mir nicht nach, Elija, sondern lebe!
Ihr Gemahl kehrte mit dem Pferd zurück, und ich half ihm, sie in den Sattel zu heben. Dann nahm ich meinen Tallit und das Buch und folgte ihnen.
Schweigend führte er sein Pferd über den Campo San Angelo in Richtung Canal Grande, während ich neben ihr herging, um sie aufzufangen, falls sie herunterzufallen drohte – ihr rechter Fuß steckte nicht im Steigbügel, sondern hing steif herab.
Sie biss die Zähne zusammen, bemüht, sich ihre Qualen nicht anmerken zu lassen. »Ihr seid noch spät unterwegs.«
»Ich habe einen Freund auf der Insel Giudecca besucht, Rabbi Jakob Silberstern. An christlichen Feiertagen ist es für Juden gefährlich, sich auf offener Straße zu zeigen. Wir schließen uns in unseren Häusern ein.«
Warum ich ihr das erzählte, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mir zuhörte.
»Habt Ihr den ganzen Tag im Dunkeln verbracht?«
»Ja.«
»Das tut mir Leid. Dann haben wir Christen Euch einen Tag Eures Lebens gestohlen.« Als ich überrascht zu ihr emporblickte, sah ich im Mondlicht, dass sie lächelte. »Umso dankbarer muss ich Euch sein, dass Ihr auch noch eine Nacht opfert, um mir das Leben zu retten.«
Im rabbinischen Streitgespräch war ich nie um Zitate aus der Tora oder dem Talmud verlegen, und im Disput hatte ich vor Jahren sogar Kardinal Cisneros in die Knie gezwungen, aber diese Frau brachte mich aus der Fassung. Es fiel mir schwer, ihrem Blick auszuweichen.
Dann hatten wir den Campo San Stefano überquert und die Ca’ Tron erreicht. Ihr Gemahl half ihr vom Pferd und nahm sie auf seine kräftigen Arme, um sie ins Haus zu tragen.
Eine junge Frau mit einem Leuchter öffnete das Portal. Offenbar hatte sie die beiden zu dieser späten Stunde zurückerwartet. Entsetzt schlug sie sich die Hand vor den Mund, sprang zur Seite, damit Señor Tron eintreten konnte, und schloss hinter mir die Tür. Dann erst betrachtete sie mich, sah den gelben aufgestickten Kreis auf meinem Mantel, die Kippa auf meinem Kopf, den Tallit über meinem Arm und meine blutdurchtränkte Robe.
»Ich werde Euch
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