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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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längere Zeit aus dem Saal. Vermutlich hat er einen seiner Leibwächter beauftragt, in Arons Kontor einzubrechen, um den Kreditvertrag mit seiner Unterschrift und die Kontobücher zu stehlen!
    Der Dieb wurde überrascht, bevor er den Tesoro aufbrechen konnte, aber die Kontobücher, die offen auf dem Arbeitstisch lagen, hat er mitgenommen. Und dann brannte Arons Kontor – scheinbar mit Antonios Kreditvertrag im Tesoro. Mein Cousin geht also davon aus, dass alle Unterlagen zu seinen Schulden bei Aron vernichtet sind – nicht jedoch die Belege für Tristans illegalen Kredit. Denn Antonio ist nun im Besitz von Arons Kontobuch! Damit hat er Tristan und Aron in seiner Hand!«
    Ich erzählte Celestina von dem mysteriösen Brief, der meinen Bruder beschuldigte, illegale Geschäfte mit dem Vatikan zu machen. Rechts oberhalb der ersten Zeile hatte eine hebräische Segnung gestanden: ›Baruch Ha-Schem – Gelobt sei der Name Gottes.‹ Chaim hatte meinem Bruder Vorwürfe wegen seines illegalen Handels mit Purpurrot gemacht. Deshalb hatte Aron ihn als Brandstifter im Verdacht. Und Tristan hatte Aron mit dem unsignierten Brief aus der Bocca di Leone erpresst, um die zehntausend Zecchini von ihm zu erhalten.
    Wahrscheinlich stammte auch dieser anonyme Brief aus Antonios Feder!
    Celestina war zutiefst beunruhigt: »Aber Antonio hat wohl nicht nur Tristan und Aron in der Hand, sondern auch dich und mich! Er lässt uns überwachen – das ist nach Yehiels Bericht ganz offensichtlich. Er weiß, dass ich zum Sabbatgottesdienst in der Synagoge war. Er weiß, wie oft wir uns sehen, um gemeinsam zu arbeiten, und dass du ein paar Mal die Nacht in der Ca’ Tron verbracht hast. Elija, er weiß von unserer Liebe!«
    Sie erklärte mir, was sie in den nächsten Tagen vorhatte – nach unserem Abendessen in den Gemächern des Dogen, das am nächsten Abend stattfinden sollte.
    Ich kann nicht sagen, was mich mehr erschreckte: die Gefahr, in die sie sich begeben wollte, oder die Entschlossenheit in ihrer Stimme.

    Tief besorgt setzten Celestina, Menandros und ich nach dem Mittagessen die Übersetzung der Passionsgeschichte fort: von Jeschuas Festnahme auf dem Ölberg über die nächtliche Verhandlung vor dem Sanhedrin bis zur Verurteilung durch Pontius Pilatus.
    Ungeduldig hastete Celestina durch den Text, so schnell, dass ich ihr mit der hebräischen Niederschrift kaum folgen konnte.
    Menandros blätterte in den Passionsgeschichten von Markus, Lukas und Johannes, las die Szenen vom nächtlichen Verhör durch den abgesetzten Hohen Priester Hannas ben Sethi, von der Verhandlung vor dem amtierenden Kohen ha-Gadol Joseph ben Kajafa, der rechtswidrigen nächtlichen Verhandlung des Hohen Rates und der Auslieferung an die Römer – ein Szenarium, das von Widersprüchen nur so strotzte, wenn man es als Rabbi und Richter betrachtete.
    Am Nachmittag hatten wir die Übersetzung des Prozesses vollendet. Ich schrieb den letzten Satz nieder: ›Die Soldaten des Präfekten zogen Jeschua seine Kleider aus und legten ihm ein purpurnes Gewand an, woben Dornenzweige zu einer Krone, setzten sie auf sein Haupt und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Dann knieten sie vor ihm nieder und verhöhnten ihn: Heil dem König der Juden!‹«
    Ich legte die Feder weg und wischte mir die Finger ab.
    »Die Passionsgeschichte ist ein herrliches, verherrlichendes Gemälde von Iesous Christos, dem gekreuzigten Gottessohn und auferstandenen Erlöser der Welt. Die leuchtenden Farben und der Goldglanz wurden dick aufgetragen, um die Wahrheit darunter zu verbergen«, fasste Celestina zusammen. »An vielen Stellen haben wir in den letzten Tagen die wunderbaren christlichen Übermalungen Schicht um Schicht entfernt, um das schlichte, das menschliche jüdische Bild darunter zu entdecken. Ein Bild von König Jeschua, das wir bis jetzt nur erahnen können. Nun zeig uns dieses verborgene Bild, Elija!«
    Ich schloss die Augen, um mich zu besinnen – da stiegen die Erinnerungen in mir auf, die ich so gern vergessen würde.
    In meiner Zelle in Córdoba hatte ich die Passionsgeschichte erforscht, um die Disputationen mit Kardinal Cisneros überleben zu können. Siegen oder sterben! Ich erinnerte mich, wie ich ein paar Tage vor dem Karfreitag über Jeschuas Worte am Kreuz nachsann: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen‹, während in der Nachbarzelle Sarah gefoltert wurde. Auch ich hatte den zweiundzwanzigsten Psalm gebetet: ›Mein Gott, ich rufe bei Tage, und Du

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