Die Evangelistin
blickte sie auf und verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln.
David sezierte den Fisch auf seinem Teller und tat, als nähme er meine zärtliche Geste nicht wahr. Menandros starrte traurig auf meine Hand. Als er merkte, dass ich ihn ansah, senkte er den Blick.
Schließlich berichtete Yehiel: »Elija, du hast mich gestern Morgen gebeten, den Mann vor der Kirche Santa Maria della Carità zu beschatten.« Der Junge zog mit spitzen Fingern eine Gräte aus dem Fisch. Mit vollem Mund erzählte er weiter: »Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, bin über den Canale della Giudecca gerudert und wollte gerade in einen Rio einbiegen, um den Canal Grande zu erreichen, da sah ich ihn:
Der Mann stand auf der Fondamenta delle Zattere und starrte zum Haus meines Vaters hinüber. Er muss euch zu Fuß durch die Gassen gefolgt sein, während ihr durch die Kanäle gerudert seid, um zur Insel Giudecca zu gelangen.«
»Bist du sicher, dass es der beschriebene Mann war?«, fragte ich und füllte mein Weinglas.
»Ganz sicher«, nickte Yehiel und genoss einen Moment lang Esthers Bewunderung für seine Heldentat. »Als ihr in die Gondel gestiegen und den Canale della Giudecca in Richtung Westen entlanggerudert seid, ist der Mann euch gefolgt. Er lief die Fondamenta delle Zattere entlang bis zum westlichen Ende. Dort stand er eine Weile und sah euch nach, wie ihr auf die Lagune hinausgefahren seid.«
»Und dann?«, fragte ich gespannt.
»Dann ist er zur Kirche Santa Maria della Carità zurückgekehrt. Dort hat er mit einem Mönch geredet.« Yehiel machte eine dramatische Pause. »Er sprach mit Fray Santángel, der jeden Tag vor Arons Kontor den Zorn Gottes auf uns Juden herabgefleht hatte – bis das Kontor letzte Woche abgebrannt ist. Seitdem war der Franziskaner verschwunden, und ich hatte ehrlich gesagt gehofft, Gott hätte seinen Zorn an ihm ausgelassen.«
Jakobs Sohn verdrehte die Augen. »Na ja, dann hat der Mann eine vorbeifahrende Mietgondel herangewunken und sich vom Gondoliere zum Molo bringen lassen. Ich bin ihm gefolgt! Das war nicht einfach, denn der Gondoliere hat sich derart ins Zeug gelegt, als müsste er das Gondelrennen auf dem Canalazzo gewinnen. Als ich am Molo anlegte, wusste ich auch, warum.«
Celestinas Hand begann zu zittern, und ich hielt sie fest.
»Wohin ist der Mann gegangen?«
»Er eilte über die Piazzetta. Es war ein ziemliches Gedränge – die Senatoren strömten durch die Porta della Carta in den Hof des Dogenpalastes. Die Glocken von San Marco läuteten schon eine Weile und riefen die Senatoren zur sonntäglichen Sitzung des Maggior Consiglio. Überall auf der Piazzetta und auf der Riva degli Schiavoni standen Bewaffnete der Dieci, die dafür sorgten, dass niemand unbefugt den Dogenpalast betrat.
Ich habe mein Boot festgemacht – was nicht leicht war, denn der gesamte Molo war mit den prächtigen Gondeln der Senatoren verstellt. Dann bin ich dem Mann über die Piazzetta gefolgt. Beinahe hätte ich ihn zwischen den vielen Würdenträgern aus den Augen verloren, aber dann sah ich ihn wieder: Er betrat den Dogenpalast! Die Porta della Carta war wegen der Sitzung des Maggior Consiglio bewacht, doch er sprach kurz mit den Bewaffneten und wurde dann durchgewinkt.«
»Sein Auftraggeber – der Mann, der uns beschatten lässt – ist im Dogenpalast!«, flüsterte Celestina und sah mir furchtsam in die Augen. Ich drückte ihre Hand.
»Und was hast du dann getan?«, fragte ich Yehiel.
»Ich habe gebettelt«, entgegnete er verschmitzt.
»Du hast was getan?«
»Das arme kleine Judenkind hat sich durch die Arkaden des Palazzo Ducale an das Portal herangeschlichen, um die Senatoren anzubetteln«, erklärte er stolz. »Ich hatte mir Staub von der Piazetta im Gesicht verrieben und meine Hände an der Kleidung abgewischt. Ich muss ziemlich schmutzig ausgesehen haben.« Er grinste frech. »Ich habe die Senatoren an den Ärmeln ihrer prächtigen Seidenroben gezupft, die Hand aufgehalten und ihnen vorgeheult, wie hungrig ich sei!«
»Yehiel, du sollst nicht lügen!«, wies ich ihn zurecht. »Dieses Gebot gilt auch gegenüber den Gojim!«
»Ich habe nicht gelogen, Rabbi! Ich war doch hungrig!«, verteidigte er sich. »Einige der Signori haben mir armem Judenkind tatsächlich etwas gegeben. Es war ja Sonntag! Und ich sah so erbärmlich aus!«
Yehiel grinste übermütig, griff in seine Tasche und legte etliche Münzen auf den Tisch.
»Na ja, jedenfalls habe ich es geschafft, bis zum Portal des
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