Die Evangelistin
ihre vier Söhne und ihre Töchter, die sie unter Schmerzen geboren hatte, weggenommen und zu ihren Stiefkindern erklärt, damit Jeschua ihr einziges Kind sein konnte. Schließlich wurde die Mutter, die ihrem göttlichen Sohn während ihres Lebens angeblich so wenig Verständnis entgegenbrachte, auf dem Konzil von Ephesos im Jahr 431 als Theotokos, als Gottesmutter, in den Himmel entrückt. Eine logische und theologisch längst überfällige Konsequenz des Konzils von Nikaia, das Jeschua zum Gott erklärte.
Seine Gemahlin Mirjam wurde in die zweite Reihe der Jünger zurückgestoßen und als Besessene und Sünderin diffamiert.
Jakobs überragende Bedeutung als Führer der Nazoräer in Jeruschalajim wurde in der Apostelgeschichte des Lukas zu Gunsten der Rolle des Paulus konsequent heruntergespielt. In den Evangelien wird Jakob nur ein einziges Mal erwähnt – wie seine Brüder, die angeblich auch nicht an Jeschua glaubten. Jeschuas Cousins, seine Brüder und Gefolgsleute – alle werden sie als Feiglinge dargestellt, die ihn am Ende im Stich lassen.
Jehuda* wird ein Verrat angehängt, um ihn zu diffamieren. Wie auch Schimon in der Nacht der Gefangennahme seinen Bruder drei Mal verleugnet haben soll …«
»Schimon Kefa?«, wiederholte Menandros ungläubig. »Petrus war …«
»… Jeschuas jüngerer Bruder.«
Menandros wollte etwas sagen, schwieg dann aber.
»Die Evangelisten verschleierten die historische Tatsache, dass ein Familienclan aus der Dynastie der Ben Davids nach der Macht griff: Jeschua ha-Nozri und seine Brüder Jakob ha-Zaddik, Schimon Kefa, Jehuda Sicarius und Joseph ha-Zaddik sowie seine Cousins, die ›Söhne des Zorns‹ Johanan und Jakob ben Savdai sowie Mattitjahu, Jakob und Simeon ben Chalfai, die seine Gefolgsleute* waren.«
Ich holte tief Luft und fuhr fort:
»In dieser christlichen Verschwörung wurden alle Verwandten Jeschuas Opfer der Evangelisten und ihrer von Paulus beeinflussten Geschichtsfälschung.
Und selbst Jeschua wurde nicht verschont! Die Evangelisten nahmen ihm seinen Vater Joseph und machten Jeschua damit nach jüdischem Recht zu einem Bastard. Sie nahmen Jeschua seine Brüder, erklärten sie zu seinen Stiefbrüdern oder gar Cousins und machten zwei von ihnen, Schimon und Jehuda, zu Verrätern an ihm.
Die Evangelisten leugneten die Tatsache, dass er den Geboten gemäß verheiratet war, und ließen ihn, den schriftgelehrten Rabbi, wie einen Gesetzesbrecher erscheinen. Sie verweigerten ihm nicht nur die Leidenschaft und die Lust der Liebe, sondern muteten ihm auch noch das furchtbare Unglück zu, keine Kinder zu haben und damit die Gebote der Tora nicht zu erfüllen. Sie leugneten sein Judesein. Aus dem frommen Nazoräer, der das Gelübde des Nazirats* abgelegt hatte, machten sie einen ›Fresser und Weinsäufer‹.
Sie nahmen ihm die Königswürde, erklärten sein Reich als nicht von dieser Welt, glorifizierten sein Scheitern und verherrlichten seinen Tod am Kreuz – einem Instrument des Todes, das zum Symbol des christlichen Glaubens wurde, den er doch nie gegründet hatte. Sie ließen Jeschua ohne das Schma Israel, das jeder Jude in der Stunde seines Todes betet, am Kreuz sterben! Und am Ende hetzten sie sein eigenes Volk gegen ihn auf.
Das nenne ich Verrat an Jeschua.«
»Gepriesen bist Du, Adonai, unser Gott, König der Welt …«
Als ich kurze Zeit später den Segen vor dem Essen sprach, trat Yehiel ein und schloss leise die Tür hinter sich. Dann wartete er still, bis ich die Benediktion beendet hatte und das Mahl begann. Er war unruhig und wollte mit mir reden.
Bevor Celestina und ich am Sonntag auf die Lagune hinausruderten, hatte ich ihn gebeten, den dritten Mann, der die Ca’ Tron überwachte, zu beschatten. Was hatte er herausgefunden?
»Komm, Yehiel: Iss mit uns!«, lud ich ihn ein, auf dem freien Stuhl am anderen Ende des Tisches Platz zu nehmen.
Wie ein Sonnenstrahl huschte ein Lächeln über sein Gesicht, während sich Yehiels und Esthers Blicke trafen. Als auch David zustimmend nickte, setzte sich der Junge mit leuchtenden Augen neben seine geliebte Freundin, die unter dem Tisch nach seiner Hand tastete. Während Judith ihm einen gefüllten Teller zuschob, rückte er seinen Stuhl ein wenig näher an Esther heran.
Celestina war besorgt, das sah ich ihr an. Lustlos schob sie das Gemüse auf ihrem Teller herum und sah immer wieder zu dem Jungen hinüber, der hungrig das Essen hinunterschlang. Als ich ihr beruhigend die Hand auf den Arm legte,
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