Die Evangelistin
die der Maler auf Sapphos Felsen verewigt hatte: »Dies ist die erste Entwurfsskizze, die ich für das Fresko Elysion im päpstlichen Arbeitszimmer gezeichnet habe. Du fragst dich, wohin Sappho blickt? Nach Rom! Komm doch endlich! Ich umarme und küsse dich. Raffaello.« Der Maler des Papstes hatte die Nachricht erst wenige Wochen zuvor signiert.
Im Schein der Kerzen bemerkte ich vier große Bücherkisten vor dem Schreibtisch. Waren sie für die Abreise nach Rom gepackt worden? Drei Kisten waren durch Vorhängeschlösser gesichert. Der Deckel der vierten Truhe stand noch offen, und ich trat mit meinem Leuchter näher, um zu sehen, welche Schätze sie barg.
Fasziniert legte ich Ibn Shapruts Buch und meinen Tallit auf den Schreibtisch, kniete mich vor die offene Bücherkiste und nahm andächtig den ersten Folianten in die Hand. Giovanni Picos Conclusiones ! Hingerissen blätterte ich darin. Dann legte ich das Buch zur Seite und betrachtete das nächste. Verbotene Früchte der Erkenntnis! Leise schloss ich den Deckel, damit niemand merkte, was ich gesehen hatte.
Während ich an den hohen Regalen entlangschritt, strich ich über die ledernen Buchrücken und las die mit Goldfarbe aufgemalten italienischen und lateinischen Buchtitel. Die Bücher der großen Kirchenlehrer kannte ich aus Hernán de Talaveras Bibliothek in Granada.
Dann entdeckte ich das italienische Dreigestirn der Dichtkunst: Francesco Petrarca, Giovanni Boccaccio und Dante Alighieri, die einen ersten Lichtschimmer in die Finsternis des christlichen Denkens gebracht hatten – die arabischen und jüdischen Werke des Goldenen Zeitalters in Sefarad hatten, da sie ja von Ungläubigen und Unwissenden verfasst worden waren, nie die düsteren, apokalyptischen christlichen Zeitalter erleuchtet.
Schließlich stand ich vor dem Regal mit den griechischen Werken. Nur mit Mühe konnte ich die Buchtitel entziffern. Aristoteles’ Ethik hatte ich vor Jahren im arabischen ›Original‹ gelesen – die griechische Urschrift war schon seit Jahrhunderten verloren und existierte nur noch in arabischer Übersetzung.
Auf der anderen Seite des Raumes entdeckte ich ein ganzes Regal mit Folianten in arabischer Sprache, darunter einige berühmte Werke aus Córdoba und Alexandria, die ich selbst vor Jahren in Granada gelesen hatte. Einige dieser Bücher hatte ich selbst einmal besessen. Bei meiner Flucht aus Spanien hatte ich sie in Granada zurücklassen müssen.
Wehmütig stellte ich das Buch, in dem ich geblättert hatte, zurück ins Regal und fand hebräische Werke von Jehuda ben Samuel Halevi, Mosche ben Maimon und einigen anderen sefardischen Gelehrten – was ich bemerkenswert fand, da die Bände ursprünglich in Arabisch verfasst waren. Für einen Christen war das Studium hebräischer Bücher ungewöhnlich, es sei denn, er beschäftigte sich mit der Kabbala.
Ich zog Jehuda Halevis Sefer ha-Kusari aus dem Regal. Es war im Jahr 1506 in Istanbul in hebräischen Lettern gedruckt worden. Darin blätternd fand ich die Zeilen, in denen Jehuda Halevi die ersehnte Rückkehr nach Israel beschrieben hatte. Wir Juden haben unsere Heimat niemals ganz verloren gegeben. Zerstreut in alle Welt und weit entfernt von Jeruschalajim leben wir, doch stets tragen wir die Erinnerung und die Sehnsucht in unseren Herzen. Und obwohl seit unserer Vertreibung viele Jahrhunderte vergangen sind, haben wir in den Zeiten der Verfolgung doch die Hoffnung auf eine Rückkehr in unser Land niemals aufgegeben. Und jedes Jahr an Pessach sagen wir uns wieder: »Und nächstes Jahr in Jeruschalajim!«
Traurig dachte ich an meinen Vater, der für diese Vision gelebt hatte und der ihr Scheitern miterleben musste, bevor er in Portugal gestorben war – wenige Stunden vor Cristóbal Colóns Aufbruch nach Westen. Wie viel Hoffnung hatten wir in ihn gesetzt, dass er finden würde, was wir suchten. Aber vergeblich!
Zart strich ich über die Seiten, dann atmete ich tief den Duft des Buches ein – ein schwacher Ersatz für den Duft der Erde der Heimat Israel. Aber besser als nichts.
Gerade als ich das Buch schließen wollte, fiel ein Zettel zwischen den Seiten heraus. Ich hob ihn auf und entfaltete ihn. Ein paar hebräische Vokabeln, in einer eleganten Handschrift ins Italienische übertragen. Die mühsame Übersetzung eines Absatzes von Jehuda Halevi. Zeugnis für den Wunsch, die hebräische Sprache zu erlernen, und für das unvermeidliche Scheitern, wenn man keinen Lehrer hat, der Hebräisch sprechen und
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