Die Evangelistin
Muttersprache. Es würde ihr Vergnügen bereiten – Euch dagegen vermutlich weniger.« Er grinste verschmitzt. »Kardinal Grimani, der ebenfalls bei ihr Griechischunterricht nahm, beschwerte sich.« Er bemerkte mein Zögern. »Wenn Ihr glaubt, Celestinas Geschenk nicht annehmen zu dürfen und ihr etwas dafür zurückgeben zu wollen, weil sie Euch Griechisch lehrt, dann lehrt Ihr sie etwas, das sie gern lernen würde. Celestina sagte mir, Ihr seid ein Rabbi, ein jüdischer Schriftgelehrter …«
»Was soll ich sie lehren?«, fragte ich erstaunt.
»Hebräisch.«
Die Nacht verbrachte ich in der Bibliothek, obwohl Menandros mir ein Bett in einem der Gästezimmer angeboten hatte. Trotz des Opiums, das ich gegen die Schmerzen genommen hatte, war ich nicht müde – in dieser furchtbaren Nacht hätte ich ohnehin nicht schlafen können. Daher wollte ich ein wenig in den Büchern blättern, und Menandros hatte nichts dagegen. Er bat Alexia, mir noch mehr Kerzen zu bringen, dann ging er, um an Celestinas Bett zu wachen.
Erneut trat ich zum Regal mit den griechischen Folianten, obwohl ich sie nicht lesen konnte. Es ging mir wie Celestina, die sich in die hebräische Sprache hineingewühlt hatte, ohne sie wirklich zu verstehen, und die trotzdem nicht davon lassen konnte, das Unbekannte zu erforschen.
Ich zog ein dickes Buch aus dem Regal und schlug es auf. Buchstabe für Buchstabe entzifferte ich das erste Wort: ευαγγελιον – Evangelion.
Die Evangelien in griechischer Sprache!, dachte ich fasziniert. In der Sprache, in der sie vor über eintausendvierhundert Jahren niedergeschrieben wurden. Wenn ich sie doch nur lesen könnte! Denn das lateinische Neue Testament war die fehlerhafte Übersetzung dieser griechischen Texte, die zwar auch ungenau waren, aber doch dem Sinn – dem hebräischen Sinn und dem jüdischen Denken – am nächsten kamen.
Ich schlug die erste Seite des Johannes-Evangeliums auf. Den griechischen Text verstand ich nicht, doch ich wusste, was er bedeutete, denn ich hatte ihn oft genug gelesen: ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.‹
Der Logos – das Wort: Das war die reinste griechische Philosophie und hatte mit dem schriftgelehrten Rabbi Jeschua ben Joseph nicht das Geringste zu tun! Celestina schien das erkannt zu haben, denn sie hatte das Neue Testament in ihrem Bibliotheksregal nicht bei der Theologie, sondern bei der griechischen Philosophie einsortiert – gleich neben Aristoteles’ Ethik , als wäre dieses Buch Jeschuas Ethik.
Wie gern wollte ich diese griechischen Evangelien ins Hebräische rückübersetzen, um all die Fehler zu korrigieren, die in eintausendvierhundert Jahren begangen worden waren – nicht nur im Text. Dann würde ich sie erneut übertragen, aber nicht in die italienische, sondern in die lateinische Sprache, damit alle Menschen diese neuen Evangelien lesen konnten, die eine andere Geschichte von Jeschua erzählten.
Hieronymus, der Übersetzer der Vulgata, der lateinischen Bibel, war heilig gesprochen worden. Ich würde für dieselbe Arbeit mit dem doppelten Aufwand der Rückübersetzung und der rekonstruierenden Korrektur des Urtextes verdammt werden.
Ich stellte das Buch zurück an seinen Platz.
Zwei Stunden lang las ich im Licht der Kerzen – zwei Mal hörte ich die Glockenschläge von San Stefano.
Ich vertiefte mich in Celestinas Manuskript, das ich auf dem Schreibtisch fand: De Dignitate et Excellentia Hominis – Über die Würde und die Erhabenheit des Menschen , wobei sie mit excellentia des Menschen Streben nach Vollkommenheit meinte, seine Suche nach Erkenntnis. Excellentia war für sie nicht ein von Gott in der Schöpfung gegebener Zustand, sondern ein Prozess des Werdens, des Seinwollens. So wie Giovanni Pico della Mirandola es formuliert hatte: ›Es steht dem Menschen frei, sich durch seinen eigenen Willen in die Welt des Göttlichen zu erheben.‹ Durch seinen eigenen Willen, durch seine eigenen von Gott gegebenen Fähigkeiten! Nicht durch Vermittlung der christlichen Priester oder der Sakramente! Nicht durch das Abendmahl und Jeschuas Sühneopfertod am Kreuz. Celestina ging auf diesem gefährlichen Weg viel weiter als Giovanni Pico – das war mutig!
Und auch Marsilio Ficinos Gedanken ließ sie weit hinter sich. Der Florentiner hatte geschrieben: ›Und so strebt der Mensch Gott gleich zu sein in allem.‹ Die Idee des Gottmenschen nach dem Verständnis Marsilio Ficinos, Leon Battista Albertis und
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