Die Evangelistin
denken lehren kann.
»Diese Bibliothek ist das Allerheiligste im Tempel des Wissens. Aber Ihr scheint keine Angst zu haben, es zu betreten.«
Ich fuhr herum: Señor Tron lehnte mit verschränkten Armen in der Tür. Er hatte sich umgezogen und trug nun eine lange Robe aus schwarzer Seide.
»Warum sollte ich Angst haben?«, fragte ich und stellte Jehuda Halevis Buch zurück ins Regal.
Lässig wies er auf die griechische Inschrift über der Tür, die ich beim Eintreten bemerkt hatte.
»Ich kann kein Griechisch lesen.«
»Das ist ein Spruch, wie er in der Antike über dem Eingang zu Platons Akademie in Athen eingemeißelt war. Die Zeilen heißen übersetzt: ›Wer werden will, der trete ein. Wer glaubt zu sein, komm’ nicht herein.‹ Das ist Celestinas sehr eigenwillige Version von Platons Worten ›Werde, der du bist.‹ Celestina meint: Wenn du dich für vollkommen hältst und nicht bereit bist, noch etwas zu lernen, wenn du nicht bereit bist, alles in Frage zu stellen, vor allem dich selbst, dann komm nicht erst in diese Bibliothek! Denn du wirst als ein anderer Mensch herauskommen, als du hineingegangen bist. Viele haben davor Angst.«
»Es ist eine einzigartige Büchersammlung. Mich hat sie heute Nacht das Staunen gelehrt«, gestand ich. »Ich habe noch nie so viele Werke in einem Raum gesehen.«
»Es sind eintausendvierhundertachtundsiebzig Bücher in sechs Sprachen: Italienisch und Französisch, Latein und Griechisch, Arabisch und Hebräisch. Bände aus Venedig, Florenz und Rom, Córdoba und Salamanca, Istanbul, Athen und Alexandria. Die bedeutendsten Werke über Philosophie, Theologie, Rhetorik, griechische und lateinische Grammatik, italienische und arabische Poesie und die Naturwissenschaften, die seit der Antike geschrieben worden sind.«
»Eine Sammlung, auf die Ihr sehr stolz sein könnt!«
»Es sind nicht meine Bücher, sondern ihre. Ich bin auch nicht ihr Gemahl, wie Ihr wahrscheinlich wegen unseres vertrauten Umgangs annahmt. Mein Name ist Menandros. Ich wurde in Istanbul geboren. Während einer Seereise nach Griechenland bin ich von Piraten gefangen genommen worden, die mich nach Ägypten verschleppten. Celestina hat mich vor drei Jahren auf dem Sklavenmarkt in Alexandria gekauft.«
Menandros bemerkte mein Erstaunen. »Celestina hat ein Vermögen für mich bezahlt, denn ich habe studiert und spreche mehrere Sprachen: Griechisch, Türkisch und Arabisch.« Seine Finger spielten mit dem Bildnis des gekreuzigten Jeschua auf seiner Brust. Als ihm bewusst wurde, dass mich der Anblick beleidigen könnte, schob er es unter seine schwarze Robe. »Celestina hat die Größe besessen, mich nicht dadurch zu demütigen, dass sie den Kaufpreis für mich herunterhandelte. Ohne zu zögern hat sie den vollen Preis bezahlt. Und um den Händler nicht zu beleidigen, weil sie ja nicht um mich gefeilscht hatte, gab sie ihm noch eine Goldmünze dazu. So ist sie, meine Celestina.«
Ich sah ihm in die blauen Augen. »Ihr liebt sie.«
»Sie hat mir meine Freiheit geschenkt, und ich ermögliche ihr die ihre, jenseits aller gesellschaftlichen Konventionen. Die Sitten in Venedig sind sehr streng: Sie braucht einen Mann im Haus – ich bin ihr Sekretär und Vertrauter. Ich achte darauf, dass niemand ihr wehtut. Um Eure Frage zu beantworten: Ja, ich liebe sie.«
»Wie geht es ihr?«
»Ich habe ihr Opium gegen die Schmerzen gegeben. Sie schläft jetzt. Es war ein anstrengender Tag.«
»Ist sie schwer verletzt?«
Er schüttelte den Kopf. »Das Bein ist nicht gebrochen. Alles, was sie braucht, sind ein paar Tage Bettruhe und liebevolle Pflege.«
»Das freut mich.«
»Bevor sie einschlief, bat sie mich, Euch Folgendes zu bestellen: Sie wird niemals vergessen, dass Ihr heute ihr Leben gerettet habt. Daher möchte sie Euch gern einen Wunsch erfüllen. Für den Schaden an Eurem Talar, Eurem Tallit und dem zerrissenen Gebetsgewand wird sie selbstverständlich aufkommen. Vielleicht gibt es etwas, womit sie Euch eine Freude machen kann?«
Ich wollte ablehnen, doch er drang in mich:
»Bitte, Kyrie, weist kein Geschenk zurück, das von Herzen kommt.«
Ich gab nach und zog einen dicken Folianten aus dem Regal. »Dieses Buch würde ich gern für einige Wochen ausleihen.«
Er nahm es und blätterte darin. »Eine griechische Grammatik? Ich dachte, Ihr versteht kein Griechisch.«
»Ich will es lernen.«
»Um es zu lernen, müsst Ihr es sprechen. Warum bittet Ihr Celestina nicht, es Euch zu lehren? Griechisch ist ihre
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