Die Evangelistin
Giovanni Picos bedeutete für die Humanisten keine Lästerung des Allerhöchsten, sondern die Erkenntnis von Gottes Schöpfungsplan: die Selbsterhöhung des Menschen über alle anderen Lebewesen.
Celestina gab dem Menschen – Adam und Eva! – nicht nur die Würde, die Vernunft und die Freiheit, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu kosten, sondern auch ein Gewissen. Und sie stellte in einer schlicht unwiderlegbaren und in ihrer Klarheit beinahe schon rabbinischen Argumentation Eva dem Adam gleich! ›Ad imaginem Dei creavit illum masculum et feminam creavit eos – Nach dem Bilde Gottes schuf Gott die Menschen, männlich und weiblich schuf Er sie.‹
Eva sei zudem nicht aus der Rippe Adams erschaffen worden, sondern aus seiner Seite – was aus dem hebräischen Text der Genesis richtig übersetzt war. Eva als Adams gleichberechtigte Partnerin, die Seite an Seite mit ihm den Lebensweg beschreitet: Das war revolutionär! Ihre Forderung an den Papst, die Übersetzung der Schöpfungsgeschichte in der Septuaginta und der Vulgata, der griechischen und der lateinischen Bibel, möglichst bald zu korrigieren, ließ mich schmunzeln.
Aus dieser Idee des verlorenen Paradieses leitete sie überaus bestimmt eine Moral ab, die mich als schriftgelehrten Rabbi, der die Mizwot, die Gebote Gottes, hielt, sehr beeindruckte. Denn auch hier zitierte sie die Tora:
›Wandele vor mir und sei ganz!‹, hatte Adonai dem Abraham befohlen. Mosche hatte gefordert, Gott nachzufolgen, die Propheten hatten ermahnt, mit Gott zu wandeln, aber Gott vorauszugehen – war das nicht gotteslästerlich? Aber nein, genau wie Rabbi Akiba vor eintausendvierhundert Jahren argumentierte sie, dass Gott in diesem Augenblick Abraham die Freiheit geschenkt hatte, seinen Weg selbst zu wählen. Und nur mit diesem freien und in seinen Entscheidungen Gott gegenüber gleichberechtigten Abraham konnte Gott Seinen Bund schließen, den Bund des Volkes Israel.
Als hätte sie den Talmud gelesen, argumentierte sie für den freien Willen des Menschen, aber auch für seine unbedingte Verantwortung gegenüber Gott und allen anderen Menschen, und widersprach entschieden Paulus, der den Menschen mit der Erbsünde belastete, die nur mit Jeschuas Blutopfer am Kreuz gesühnt werden konnte.
Mit welchem Feuereifer Celestina ihr humanistisches Evangelium verkündete! Ich war fasziniert – von ihrem Buch und von ihr selbst.
Wenig später erwachte mit dem ersten, verschlafenen Gezwitscher der Schwalben der neue Tag. Ich legte ihr Manuskript auf den Schreibtisch, trat ans Fenster und blickte über die Schattenrisse der Paläste auf der Südseite des Canal Grande und die schwankenden Masten im Hafen hinweg nach Osten. Bis auf das Gezwitscher war es vollkommen still. Venedig schlief noch.
Es war Zeit für mein Morgengebet und das Schma Israel. Mein Tallit lag auf ihrem Schreibtisch, aber die Tefillin, die Gebetsriemen, waren noch in der Tasche meiner Robe – und die lag in ihrem Schlafzimmer, wo Menandros meine Wunde versorgt hatte.
Ob sie noch schlief?
Leise öffnete ich die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Vom Bett her hörte ich ihre ruhigen Atemzüge. Vorsichtig schlich ich um die Reisetruhen neben ihrem Bett herum, hinüber zum Sessel, wo meine zerrissene Robe lag. Ich nahm sie an mich und kehrte um.
An ihrem Bett verharrte ich einen Herzschlag lang.
Das erste Licht des Tages fiel auf ihr Gesicht, das lange blonde Haar, das wie ein goldener Heiligenschein über dem Kissen ausgebreitet lag, die Augen mit den langen seidigen Wimpern, die gerade Nase, die vollen Lippen, die im Schlaf leicht geöffnet waren.
Wie gern wollte ich sie berühren, sie in den Arm nehmen und ein wenig ihre Wärme spüren!
Ganz heiß wurde es mir ums Herz. Es war ein Gefühl, das ich sehr lange nicht mehr gespürt hatte: die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit.
Doch dann besann ich mich: Was tat ich hier an ihrem Bett?
Ich verstieß schon gegen das Gesetz, das jüdische wie das christliche, wenn ich in ihrem Haus die Nacht verbrachte! Aber an ihrem Bett zu stehen und sie anzustarren – das war Verrat an Sarah, an unserer unsterblichen Liebe, an tausendundein schönen Erinnerungen, an unseren Träumen und Hoffnungen, an unserem Glück. Es war Verrat an allem, was wir gemeinsam erlitten hatten, an allem, wofür sie in den Tod gegangen war, damit ich weiterkämpfen konnte. Sarah hatte mir vertraut, und dafür hatte sie sterben müssen. Wie konnte ich sie derart verraten!
Ich floh aus ihrem
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