Die Evangelistin
verbinden, Kyrie«, versprach sie. »Bitte folgt Menandros die Treppen hinauf. Ich hole nur das Verbandszeug!« Damit drückte sie mir den Silberleuchter in die Hand und verschwand.
Langsam stieg ich die Marmortreppe hinauf bis in den ersten Stock. Diesen großartigen Palacio einfach nur Ca’ zu nennen – das war die venezianische Bezeichnung für ein Haus – schien mir absurd. Er war sehr elegant eingerichtet, prächtiger noch als die Alhambra, als Abu Abdallah Muhammad Sultan war.
Ich folgte Señor Tron eine weitere Treppe hinauf in den zweiten Stock. Er wartete mit der Frau in seinen Armen, bis ich die Schlafzimmertür öffnete und ihm leuchtete. An mir vorbei trat er in den großen Raum, legte seine Gemahlin vorsichtig auf das Bett, stopfte ihr ein Kissen in den Rücken und flüsterte etwas auf Griechisch. Sie antwortete in derselben Sprache und sah mich dabei an.
Da wandte er sich zu mir um und zeigte auf einen Sessel am Fenster. »Bitte setzt Euch, Kyrie. Lasst mich Eure Wunde untersuchen.«
»Das ist nicht nötig«, winkte ich ab und wandte mich zum Gehen.
Zwei Reisetruhen standen neben dem Bett, offenbar für die Abreise im Morgengrauen gepackt.
Er hielt mich auf. »Ohne Euch wären Celestina und ich wohl nicht mehr am Leben. Bitte setzt Euch und lasst mich Euch helfen. Ihr seid verletzt! Ihr könnt nicht allein durch die dunklen Gassen nach Hause gehen.«
Er hatte Recht, und ich gab nach. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ein Signor di Notte mich mit einem Dolch in der Nähe der toten Asesinos entdeckt hätte. Was zu erwarten war, denn jene Gasse war die einzige Verbindung zwischen dem Campo San Stefano und dem Ponte di Rialto. Ich würde des Mordes angeklagt werden, in dieser Nacht von Jeschuas Himmelfahrt wahrscheinlich sogar des rituellen Menschenopfers. Der Prozess vor dem Consiglio dei Dieci würde noch in dieser Nacht erfolgen. Und ich war schuldig: Denn ich hatte ja getötet.
Dann kam das Mädchen mit den Binden und einem Fläschchen Opium gegen die Schmerzen.
Señor Tron half mir aus meiner zerrissenen schwarzen Robe und dem Tallit Katan, dem befransten Gebetsmantel, den ich unter dem Talar trug. »Der Schnitt ist nicht tief«, sagte er, während er die Wunde untersuchte.
»Mein Bruder ist Arzt. Er wird sich um mich kümmern, sobald ich nach Hause komme.«
Erst jetzt, da er vor mir kniete, konnte ich ihn genauer betrachten. Menandros war ein hoch gewachsener und sehr athletischer Mann, zehn Jahre jünger als ich, also Ende zwanzig, Anfang dreißig. Das goldblonde Haar fiel ihm bis auf die breiten Schultern. Seine Augen waren blau wie die Lagune von Venedig, die Nase war gerade, die sinnlichen Lippen waren fein geschnitten. Die Haltung seines Kopfes, diese leichte Neigung, die nicht Demut war, sondern Stolz, erinnerte mich ein wenig an eine Büste von Alexander dem Großen, die ich einmal in der Alhambra gesehen hatte, im Arbeitszimmer von König Fernando von Aragón, als die Reyes Católicos mit ihrem Hof in Granada weilten.
Das Mädchen – Celestina nannte sie Alexia – reichte mir einen silbernen Becher mit Opium, den ich in einem Zug leerte.
»Würdet Ihr uns nun einen Augenblick entschuldigen, Kyrie?«, fragte Señor Tron höflich, während er mir in den weiten orientalischen Brokatmantel half, den Alexia gebracht hatte. Offenbar war es eine seiner eigenen Roben. »Ihr könnt in der Bibliothek nebenan warten. Wir müssen uns nun um Celestina kümmern.«
Mit dem Buch und meinem Tallit verließ ich das Schlafzimmer, während er begann, sie zu entkleiden. Als ich mich der Tür des benachbarten Raums näherte, fiel mir eine griechische Inschrift ins Auge. Selbst wenn ich sie hätte lesen können – ich hätte keinen Augenblick gezögert einzutreten.
Die Bibliothek war ein großartiger Raum! Fünf marmorne Spitzbogenfenster über einer niedrigen Marmorbalustrade blickten zum Canal Grande. Vor den Fenstern stand ein sehr großer Schreibtisch aus dunklem Holz, davor ein Stuhl mit roten Lederpolstern. Über dem weißen Marmorkamin – trotz der Brandgefahr gab es eine Feuerstelle für die Wintermonate! – hing die Kohleskizze einer Frau in Lebensgröße.
Ich hob den Kerzenleuchter, um das Bild betrachten zu können.
Die junge Frau im griechischen Gewand saß, den Blick vom Betrachter abgewandt, auf einem Stein. In der einen Hand hielt sie eine Laute, in der anderen ein Pergament mit ihrem Namen: Sappho. Die griechische Dichterin!
Ich trat näher, um die Worte zu lesen,
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