Die Evangelistin
Liebe.
»Ich kann dich nicht heiraten«, hatte ich gesagt. »Denn wenn du konvertierst, wirst du die Ca’ Tron verlieren, die dir so viel bedeutet. Aber wie Aron sich mit Marietta verlobt hat, so will ich mit dir die Ringe tauschen und dir geloben, dich zu lieben, bis der Tod uns trennt!«
Wie ihre Augen vor Glück gefunkelt hatten!
Wir hatten den Rio di San Salvadòr erreicht, und ich steuerte die Gondel in den dunklen Kanal. David blieb dicht hinter unserem Boot und legte neben mir am Bootssteg an. Während er seine Gondel festmachte, half ich Celestina an Land – sie war im achten Schwangerschaftsmonat. In der Gasse küsste sie mich leidenschaftlich. »Ich bin sehr glücklich«, flüsterte sie.
David trat neben uns. »Na kommt, ihr verliebten Turteltäubchen!«
Dann legte er seinen Arm um meine Schultern, um wie all die Jahre zuvor gemeinsam mit mir zur Synagoge zu gehen.
Ich war sehr froh, dass mein Bruder trotz allem zu mir stand. Wie traurig er gewesen war, als Aron ihm sagte, dass ich mit Judith geschlafen hatte! Und wie entsetzt, als Aron mich zornig aufgefordert hatte, mich dem Papst zu unterwerfen und zu widerrufen!
Arm in Arm gingen wir zur Synagoge, dann stiegen wir die Treppen hinauf in den Gebetssaal …
… und blieben zu Tode erschrocken stehen.
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und meine Knie zitterten, als ich langsam weiterging.
Vater im Himmel, lass es nicht wahr sein!
»O mein Gott!«, stöhnte David. »Wie können sie so etwas tun!«
Vor dem Tora-Schrein war ein Kreuz aufgerichtet worden. Daran festgenagelt hing die Leiche eines zwei- oder dreijährigen nackten Jungen mit einer Dornenkrone. Seine Lippen waren wie zu einem stummen Schrei verzerrt! Die großen Nägel hatten seine kleinen Hände und Füße zerrissen. Die Brust des kleinen Jungen war wie durch einen Lanzenstich zerfetzt worden – das Herz war herausgerissen!
Welch grauenvoller Anblick!
Entsetzt stürzte David auf das gekreuzigte Kind zu, und ich folgte ihm, am ganzen Körper zitternd.
»Sie haben ihn geschlachtet und ausbluten lassen wie koscheres Fleisch, Elija! Das Herz … O Gott, du weißt, was das bedeutet!«, flüsterte er heiser. »Sie werden uns einen Ritualmord in der Weihnachtsnacht anhängen! Die Kreuzigung dieses Kindes ist von Christen inszeniert worden!«
Und ich wusste auch, wer in seinem fanatischen Hass auf mich zu einer solchen Tat fähig war.
Fray Santángel.
Nach dem Mord an Menandros war er verschwunden. Tristan, seit einigen Tagen wieder zum Vorsitzenden des Zehnerrates gewählt, war durch den erneuten Anschlag auf mein Leben und Menandros’ tragischen Tod zutiefst erschüttert. Er hatte Santángel suchen lassen, um über ihn zu richten – vergeblich! Und nun …
Ein gekreuzigtes Christkind in der Weihnachtsnacht in einer Synagoge! Das war Santángels Rache: mein Todesurteil!
»Du wirst brennen!«, hatte er mir geschworen.
Es war nicht das erste Mal, dass Juden angeklagt wurden, zur Verspottung von Jeschuas Martyrium ein Kind getötet und sein Blut für rituelle Zwecke verwendet zu haben. Das Blut eines Kindes ist nach Ansicht fanatischer Christen eine notwendige Zutat für die Herstellung der Mazzot, der Brote für das Pessach-Fest. Die Juden, die diese Bluttaten begangen haben sollten, wurden auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. In Spanien hatte es während der letzten Jahrzehnte unzählige Prozesse wegen solcher Ritualmorde gegeben. In Ciudad Real, Burgos, Toledo, Barcelona, Valencia und vielen anderen Städten waren zudem Hunderte Juden zusammengetrieben und auf offener Straße massakriert worden.
Auch in Italien und Tirol hatte es Ritualmordbeschuldigungen gegeben – der bekannteste Fall war der des kleinen Simone, der vor einigen Jahrzehnten von einem Juden in Trient tot aufgefunden worden war. Die Wunden des Zweijährigen waren eindeutig Rattenbisse gewesen. Die Juden protestierten: Das tote Kind sei absichtlich vor dem Haus des Juden in einen Bach geworfen worden – wie Abfall! Aber wer glaubt schon Juden? Die ganze jüdische Gemeinde war festgenommen und gefoltert worden, um die erwünschten Geständnisse zu erzwingen. Die grausamen Folterungen und die Todesurteile erregten so großes Aufsehen, dass der Papst einen Legaten entsandte, um den Fall zu prüfen. Doch der kleine Simone aus Trient war inzwischen zum christlichen Märtyrer geworden, zum Wundertäter, zum Heiligen. Und die vierzehn Juden, die unter der Folter den Mord gestanden hatten, waren hingerichtet
Weitere Kostenlose Bücher