Die Evangelistin
Tage später, am San-Nicola-Tag, kehrte der Erzbischof nach Bologna zurück, wo der Papst ihn zu den bevorstehenden Friedensverhandlungen mit König François erwartete. Angelo war sehr unglücklich, denn mit seiner unnachgiebigen Haltung hatte er seine Schwester verloren – so wie ich meinen Bruder.
Aron und Marietta waren geflohen. Unsere Familie war endgültig zerbrochen.
Tristan hatte Recht: Die Hölle sind wir.
Wie leer das große Haus ohne Menandros war!
Celestina litt unter dem Verlust ihres Freundes, der ihr so viel bedeutet hatte. Er war immer für sie da gewesen, hatte sie umsorgt und beschützt.
Wie oft erzählte sie mir in jenen traurigen Tagen von ihrer gemeinsamen Reise von Alexandria nach Kairo, durch die schroffen Wüstentäler des Sinai zum Katharinenkloster. Von der eisigen Nacht auf dem Mosesberg, als sie sich in seinen Armen so geborgen fühlte. Von seinen liebevollen Zärtlichkeiten, die sie nach den Vergewaltigungen in Venedig und ihrer abgrundtiefen Einsamkeit in Athen so sehr genoss. Von ihrem langen Gespräch in der Kapelle des brennenden Dornbuschs im Katharinenkloster, als sie ihm sagte, dass sie ihn als ihren Freund, nicht aber als ihren Geliebten wollte. Von ihrer gemeinsamen Rückkehr nach Athen. Von der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die in seinen Augen schimmerte. Von seinen Hoffnungen, sie könnte ihn eines Tages doch noch lieben. Und von seiner stillen Verzweiflung, als sie sich bei ihrer Rückkehr nach Venedig in Tristans Arme warf und nicht in seine.
Er hatte sie so sehr geliebt.
Und sie vermisste ihn so sehr.
Celestina schrieb seinem Vater Demetrios Palaiologos und Menandros’ jüngerem Bruder Alexandros einen langen Brief – die Namen der anderen Geschwister kannte sie nicht. Sie schrieb von ihren Gefühlen für Menandros, von ihrer Hochachtung, von ihrem Vertrauen, von ihrer innigen Freundschaft und ihrer Liebe. Aber sie sandte den Brief nie ab, denn sie wusste nicht wohin – die kaiserliche Familie der Palaiologoi lebte im Exil. Menandros hatte die Seinen mit dreizehn Jahren verlassen.
Wir brachten den Brief zu ihm und schoben ihn unter einen Stein, den wir auf Menandros’ Grab legten.
Mein Gott, wie einsam er gewesen war!
»Was für ein schönes Weihnachtsfest!«
Celestina schmiegte sich in die Pelze, während ich die Gondel den Canal Grande entlang zur Synagoge steuerte. Sie war traurig, dass Menandros nicht mehr bei uns war, und doch hatte sie das festliche Abendessen und Davids feierliche Lesung aus dem Evangelium sehr genossen.
Und mein Geschenk hatte sie sehr glücklich gemacht!
Glück – welch überaus kostbares Gefühl in diesen Zeiten von Hass und Gewalt!
Während ich am hell erleuchteten Palazzo Grimani vorbeisteuerte, sah ich zu David hinüber, der seine Gondel mit Judith und seiner Tochter neben mir herruderte.
Wie froh ich war, dass wir uns nach Arons Flucht und Menandros’ tragischem Tod wieder versöhnt hatten!
An diesem Abend war er mit Judith und Esther in die Ca’ Tron gekommen, um nach der Art unserer Familie die Heilige Nacht mit uns zu feiern. In Granada hatten wir so viele Jahre als Christen gelebt, dass wir auch in Venedig nicht mehr auf das Weihnachtsfest verzichten wollten. An Weihnachten feierten wir Jeschuas Geburt, wie wir an Schawuot König Davids Geburt gedachten. Wie die Christen hielten wir, wie früher in Granada, um Mitternacht einen Gottesdienst – allerdings nicht in einer Kirche, sondern in der Synagoge. In der Weihnachtsnacht besuchen die Christen die Christmette, und die Juden schließen sich aus Angst vor blutigen Ausschreitungen gegen die verdammten ›Gottesmörder‹ in ihre Häuser ein – die Synagogen sind in dieser Heiligen Nacht immer verlassen.
Celestina hatte Recht: Es war wirklich ein sehr schönes Weihnachtsfest mit einem wundervollen Abendessen im Lichterglanz vieler Kerzen und der stimmungsvollen Lesung der Weihnachtsgeschichte im Lukas-Evangelium – »Ein schönes Märchen!«, hatte Gianni sie genannt.
Wie überrascht Celestina gewesen war, als ich ihr nach dem Abendessen eine kleine Schachtel in die Hand gedrückt hatte:
»Ein Geschenk für mich? Elija, ich …«
Ich hatte ihr die Worte von den Lippen geküsst. »Mach es auf! Ich will es mitnehmen, wenn wir gleich zur Synagoge fahren.«
Celestina hatte geahnt, was die Schachtel enthielt. Mit zitternden Fingern hatte sie den Deckel geöffnet. »O Elija, sie sind wunderschön!«
Zwei Ringe aus Murano-Glas, zerbrechlich wie unsere
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