Die Evangelistin
Evangelist Johannes hätte voller Neid sein Evangelium zerrissen, wenn er unseres gelesen hätte! Einen so würdigen und erhabenen Gottmenschen hätte nicht einmal er erschaffen können!
Die nächtelange Arbeit strengte mich zu sehr an, und so kroch ich am Sonntagnachmittag freiwillig zurück ins Bett. Jakob schleppte die Evangelien und den Talmud zum Schreibtisch in meinem Schlafzimmer und arbeitete dort mit mir an der Tempelreinigung und dem Beschluss der Juden, Jesus zu töten.
Er verzweifelte fast, als wir eine Stunde lang erbittert darüber stritten, welche Motivation ›die Juden‹ für diesen Gottesmord hätten haben können.
»Das ist doch alles völlig absurd!«, regte er sich auf und warf die Schreibfeder weit von sich.
Über meinen Einwurf, dass der Tod Jesu am Kreuz und damit auch seine Verdammung durch die Juden heilsnotwendig war, konnte er nur resigniert den Kopf schütteln.
»Sag mir, Celestina: Wenn Jesu Opfertod am Kreuz die Welt erlöst und wir Juden dafür die Verantwortung tragen – heißt es denn nicht im Johannes-Evangelium: ›Das Heil kommt von den Juden‹? –, wieso werden wir dann verfolgt, misshandelt und getötet? Und warum friert Elija in einem kalten, finsteren Kerker?«
Am nächsten Morgen ließen Jakob und ich uns während der Morgendämmerung zum Dogenpalast rudern. Wir wollten Elija besuchen – Jakob wollte das Morgengebet mit ihm sprechen und einen von König Davids Psalmen mit ihm singen, um ihm ein wenig Trost und Hoffnung zu schenken.
Doch wir wurden nicht zu ihm gelassen. »Signor Venier hat ausdrücklich verboten, dass Ihr mit dem Gefangenen sprecht«, erklärte mir der Gefängniswärter.
Jakob legte mir den Arm um die Schultern und führte mich durch die Arkaden in den Hof.
David kam uns entgegen.
Er umarmte mich. »Ich komme jeden Tag hierher, wie damals in Córdoba. Aber ich darf nicht mit ihm sprechen.«
Ich lehnte mich gegen seine Schulter, und er strich mir zärtlich über das Haar. »Lass uns nach Hause gehen«, bat ich ihn. »Jakob und ich, wir müssen dir etwas gestehen.«
» Was habt ihr getan?« Fassungslos starrte David eine Viertelstunde später auf das Manuskript des Königreich der Himmel und sank in den Sessel hinter dem Schreibtisch.
War er zornig? Nein, er war zutiefst enttäuscht.
»Um Elijas Leben zu retten, haben wir sein Buch in den letzten Tagen und Nächten neu geschrieben«, wiederholte Jakob.
David sah mir in die Augen.
Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und dabei seine Seele verliert?, fragte mich sein Blick. Und was nützt es Elija, wenn er sein Leben gewinnt und dabei seinen Glauben verliert?
»Ich bitte dich, David!«, drang Jakob in ihn. »Lies das Königreich der Himmel , bevor du uns verdammst!«
David nickte resigniert, legte das Manuskript auf den Schreibtisch und begann zu lesen. Die ersten Sätze schienen ihm Qualen zu bereiten, doch er hielt nicht inne. Als er weiterlas, entspannten sich seine Gesichtszüge. Hin und wieder huschte ein leises Lächeln über seine Lippen.
Jakob, der unbehaglich auf seinem Stuhl herumrutschte, atmete auf, als Elijas Bruder schallend zu lachen begann.
Schließlich ließ David das Königreich der Himmel sinken. »Die Geschichte von Judas’ Kuss im Garten ist wirklich spannend erzählt!«, urteilte er. »Seine Motive für den Verrat sind so gut erläutert, dass ich mich frage, ob ich anders gehandelt hätte. Man könnte fast meinen, dass ihr beide genau wisst, wie sich ein Verräter fühlt.«
Betroffen beobachteten wir David, der sein Gesicht in den Händen verbarg, um in Ruhe nachzudenken.
Endlich sah er auf. Das Funkeln in seinen Augen sagte mir: Er hatte sich entschieden!
»Die tragische Szene des trotzig schweigenden Jesus vor dem Hohen Priester Joseph ben Kajafa ist an Dramatik kaum noch zu überbieten! Der Sanhedrin als Inquisitionstribunal und der Hohe Priester als Großinquisitor! Die tiefsinnige Botschaft eures Evangeliums ist kaum zu übersehen: Wer Elija verurteilt, schlägt Jesus erneut ans Kreuz!«
»Es tut mir Leid«, erklärte Giacometto. »Signor Venier bereitet sich auf die Sitzung des Zehnerrates heute Nacht vor. Er sagte, er wolle den ganzen Nachmittag nicht gestört werden.«
Sein Blick wanderte über meine Schulter hinweg zu David und Jakob, die vor dem Portal der Ca’ Venier in der Gondel warteten.
»Vergebt mir, Madonna Celestina, aber …« Dann besann er sich. »Signor Venier leidet sehr unter diesem Prozess. Nachts tut er kaum
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