Die Evangelistin
ein Auge zu. Er ist sehr einsam. So wie vor fünf Jahren, als Ihr nach Athen geflohen seid. Ich mache mir Sorgen um ihn. Bitte verzeiht, dass ich so offen spreche! Aber er war mit Euch so glücklich.«
»Giacometto, bitte richte ihm aus, dass ich hier bin. Wenn er mich nicht sehen will, dann soll er mir das selbst sagen.«
Tristans Kammerdiener nickte und verschwand. Wenig später kehrte er zurück und führte David, Jakob und mich die Treppen hinauf in das Arbeitszimmer seines Herrn.
David, der seinen Arm um mich gelegt hatte, spürte meine Unruhe. Wie würde Tristan auf das Königreich der Himmel reagieren?
Bei unserem letzten Treffen im Ratssaal hatte ich ihm nicht gesagt, was ich vorhatte. Mit seinem schweigenden Einverständnis hatte ich das Manuskript aus der Ledermappe genommen, um die Seiten, die Elijas Todesurteil bedeuteten, zu zerreißen. Dann war ich gegangen.
Als Giacometto die Tür zum Arbeitszimmer öffnete, erhob sich Tristan hinter seinem Schreibtisch und kam uns entgegen. »Celestina, mein Schatz!« Er schloss mich in die Arme und küsste mich. Auch David begrüßte er freundschaftlich.
»Das ist Rabbi Jakob Silberstern«, machte David die beiden bekannt.
»Ihr seid also Elijas Freund Jakob? Ich freue mich, Euch kennen zu lernen«, begrüßte Tristan ihn sehr höflich. »Elija hat mir viel von Euch erzählt. Ihr seid ein großer Gelehrter! Die Sorbonne in Paris hat Euch eine Professur angeboten.«
»Das ist wahr, Exzellenz«, murmelte Jakob.
»Aber Ihr habt Euch für Venedig entschieden. Wie schade, dass die Serenissima keine bedeutende Universität hat, an der Ihr Hebräisch lehren könntet, Rabbi!«
»Danke, Exzellenz!« Jakob war sichtlich überrascht von Tristans unbefangener Freundlichkeit.
»Nun, was kann ich für euch tun?«, fragte Tristan und nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Jakob und ich waren heute Morgen im Dogenpalast«, erklärte ich. »Wir wollten Elija besuchen, wurden aber nicht zu ihm gelassen.«
»So lautet mein ausdrücklicher Befehl«, nickte Tristan und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich habe mich am Freitag, nachdem du mich verlassen hast, lange mit ihm unterhalten. Elija weigert sich, zu widerrufen.«
»Hast du ihm verraten, dass ich das Verlorene Paradies vernichtet habe?«
Tristan schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du solltest es ihm besser selbst sagen.«
»Das hatte ich heute Morgen vor.« Ich zog das neue Manuskript hervor und schob es über seinen Schreibtisch. »Und über dieses Buch wollte ich mit ihm sprechen.«
»Das Königreich der Himmel« , las er den Titel. »Was ist das?«
»Jakob und ich haben seit Freitagabend … Wie soll ich es dir erklären, Tristan? … Wir haben Elijas Aufzeichnungen durchgesehen. Nun ja, Jakob und ich haben ein beinah vollendetes Manuskript gefunden , das Elija vom Vorwurf der Häresie freisprechen könnte«, erfand ich eine Geschichte, die Tristan im Prozess verwenden konnte. »David meint, Elija habe dieses Buch hier in Venedig begonnen, einige Monate nach seinen Disputationen mit Kardinal Cisneros.«
Tristan konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken. Er schien erleichtert, dass Jakob und ich zur Feder gegriffen hatten, um Elijas Leben zu retten. »Darf ich es lesen?«
Als ich nickte, blätterte er durch die Seiten.
Schließlich warf er das Manuskript auf seinen Schreibtisch und lächelte verschmitzt: »Wie kann ein Ketzer ein so wundervolles Buch schreiben!«
»Glaubst du, dass Elija freigelassen wird, wenn er sich im Prozess darauf besinnt, was er vor einigen Monaten im Königreich der Himmel geschrieben hat?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, gestand Tristan sehr ernst. »Als Vorsitzender des Consiglio dei Dieci habe ich keinen Einfluss auf das Inquisitionstribunal.«
»Das Inquisitionstribunal?«, flüsterte ich erschrocken.
»Zaccaria Dolfin hat den Patriarchen und die venezianische Inquisition gegen mich aufgehetzt. Dieser Prozess gegen Elija ist eine lang ersehnte Gelegenheit für ihn, um mich zu stürzen und seinem Freund Antonio Tron die Stufen zum Dogenthron hinaufzuhelfen.
Weißt du, wie Dolfin mich gestern im Maggior Consiglio nannte, weil ich Salomon Ibn Ezra freigelassen und die Mordanklage gegen Elija fallen gelassen habe? Er nannte mich einen Judenfreund!«
»Tut mir Leid!«, murmelte David betroffen.
»Aber das ist erst der Anfang: Zaccaria Dolfin verfügt über einen eindrucksvollen Wortschatz an Bosheiten und Beleidigungen! Aber in diesem Fall sehe ich das
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