Die Evangelistin
Gott, in dessen Händen mein Recht ist, der Du mich tröstest in Angst. Erbarme Dich, und höre mein Gebet!«
David legte seinen Zeigefinger an die Lippen: Störe ihn nicht in seinem Gebet!
Elija sang auf Hebräisch: »Ihr Mächtigen, wie lange schändet ihr meine Ehre? Erkennt doch, dass der Herr seinen Frommen wunderbar bewahrt. Er hört mich, wenn ich Ihn anrufe. In Frieden werde ich, sobald ich liege, schlafen. Denn – so einsam ich bin – Du, Herr, lässt mich sicher sein.«
Bestürzt sah ich mich in der Zelle um, während Elija im Gebet verharrte. Nur eine Decke schützte ihn vor der Kälte. Eine Eisschicht bedeckte die Wasserschüssel auf dem Boden neben der Tür. An den Wänden der Zelle hatten sich wegen der Feuchtigkeit – das Meer war keine zehn Schritte entfernt – ebenfalls Eiskristalle gebildet. Die Kerzen, die David und ich ihm vor drei Tagen brachten, waren niedergebrannt – Elija saß frierend in der Finsternis. Wie konnte er das alles ertragen?
Elijas Gottvertrauen trieb mir die Tränen in die Augen – wie sollten wir ihn denn bloß überzeugen?
Dann hatte er sein Gebet beendet. Er nahm den Tallit vom Kopf und wandte sich zu uns um.
»Celestina!«, freute er sich, umarmte mich und hielt sich vor Kälte zitternd an mir fest. »Mi cariña!«, flüsterte er gerührt und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. »Wie wundervoll warm du bist.«
David trat zu uns und umarmte uns beide.
»Ich freue mich, dass ihr gekommen seid … Celestina und David! Und auch du bist da, Jakob!« Elija war tief bewegt. »Ich habe nach euch gefragt. Die Wärter sagten, ihr wärt jeden Tag gekommen. Aber Tristan habe verboten, dass ihr mich besucht.«
»Wie geht es dir?«, fragte ich besorgt. Er war so blass!
»Ich habe Schmerzen. Die Kälte frisst sich durch meine Glieder.« Elija zog die Decke fester um seine Schultern. »Aber am schlimmsten sind die Finsternis und die Einsamkeit. Ich denke oft an jene zwei Jahre im Kerker von Córdoba. Und an Sarah.« Frierend ließ er sich auf die Holzpritsche sinken. »Nachts, wenn ich auf dem Bett liege und in die Finsternis starre, höre ich manchmal ihre Schmerzensschreie aus der Folterkammer nebenan.«
David setzte sich neben seinen Bruder auf das Bett und legte ihm den Arm um die Schultern. Elija schloss einen Moment die Augen und lehnte sich Halt suchend gegen David. »Wir haben dir zwei Decken mitgebracht, Elija. Und jede Menge Kerzen. Damit du lesen kannst.«
»Lesen?«, fragte Elija. »Was soll ich denn lesen?«
David drückte ihm die Abschrift unseres Manuskripts in die Hand – die Handschrift aus meiner Feder hatte Tristan behalten.
Verwirrt starrte Elija auf den Titel: »Das Königreich der Himmel« , murmelte er. Dann schlug er die erste Seite auf und überflog die ersten Absätze.
Jakob und ich beobachteten ihn gebannt, wie er in dem Buch blätterte, und seufzten erleichtert, als ein amüsiertes Lächeln auf seine Lippen trat. Seine Augen huschten über die Seiten, bis er das Kapitel über den Prozess Jesu fand.
»Ein schönes Evangelium!«, lobte er. »Die Passionsgeschichte ist ganz herzergreifend erzählt – auch wenn sie im historischen Sinn nicht wahr ist!
Das fiktive Gespräch zwischen Pontius Pilatus und Jesus, zwischen dem Römer und dem Juden, zwischen Täter und Opfer, über die Frage ›Was ist die Wahrheit?‹ stimmt sehr nachdenklich«, begeisterte er sich. »Das Buch ist ein vollendetes geistiges Kunstwerk! Ich freue mich schon darauf, es zu lesen! Wer hat es verfasst?«
»Du«, sagte David.
Verwirrt sah Elija seinen Bruder an, dann irrte sein Blick zu Jakob und mir. »Ich verstehe nicht …«
Jakob legte Elija die Hand auf die Schulter. »Celestina und ich haben in den letzten Tagen und Nächten das Königreich der Himmel unter deinem Namen verfasst. Im bevorstehenden Inquisitionsprozess kann es dir das Leben retten, wenn du …«
»Jakob, ich dachte, du wärst mein Freund«, flüsterte Elija fassungslos. »Wie kannst du mich derart verraten!«
Mich würdigte er keines Blickes.
Wie enttäuscht er von uns war. Aber vor allem von mir.
Sarah hätte ihn niemals verraten. Sie war für ihn in den Tod gegangen.
Elija zog den Tallit über den Kopf und raffte mit beiden Händen den Seidenstoff vor das Gesicht.
Mein Gott, was hatten wir ihm angetan!
»Elija, bitte versteh doch …«, begann ich, aber David erhob sich, legte seinen Arm um mich und schob mich zur Zellentür.
»Ich werde nicht zulassen, dass du dich vor ihm rechtfertigst,
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