Die Evangelistin
Wort Judenfreund als eine Auszeichnung an, als eine Anerkennung meines Sinns für Gerechtigkeit – denn vor dem venezianischen Gesetz sind alle Menschen gleich, Christen und Juden.«
Tristan sah die Bestürzung in Davids Gesicht: ein Inquisitionsprozess gegen Elija!
»Die Inquisition gibt es in Venedig schon seit 1289«, erklärte er ihm. »Aber anders als die spanische Inquisition unterliegt sie der strengen Kontrolle der Republik. Die Inquisitoren werden vom Papst ernannt und unterstehen dem Dogen. Drei Laien nehmen an jedem Prozess teil – sie haben das Recht, das Verfahren jederzeit abzubrechen. In Venedig ist das Inquisitionstribunal nur eine Art Untersuchungskommission. Das Urteil wird immer von den zuständigen weltlichen Behörden gefällt, in diesem Fall vom Zehnerrat.
Und noch etwas ist anders als in Kastilien und Aragón: In den über zweihundertzwanzig Jahren ihres Bestehens hat die venezianische Inquisition nur sechs Mal das Todesurteil wegen Ketzerei verhängt. In Venedig finden also keine Massenhinrichtungen statt wie in Sevilla, Córdoba oder Valencia, wo an einem einzigen Tag hundert oder mehr Conversos die Scheiterhaufen besteigen müssen. In Venedig herrscht das Recht, nicht die Macht. Und als Capo dei Dieci trage ich die Verantwortung, dass das so bleibt.«
Tristan sah mir in die Augen, und ich senkte beschämt den Blick. Am Freitag hatte ich ihn in meinem Zorn beschuldigt, Elija opfern zu wollen, um der Macht Recht zu verschaffen.
Ich hatte ihm Unrecht getan! Wie sehr mussten ihn die dreißig Silberlinge für seinen Verrat an einem Freund verbittert haben!
Tristan wandte sich wieder Elijas Bruder zu:
»Machen wir uns nichts vor, David: Der Prozess wird kompliziert werden. Elija ist von der spanischen Inquisition zum Tode verurteilt worden. Seine Glaubensdisputationen mit Kardinal Cisneros werden im venezianischen Prozess eine Rolle spielen. Aber die Inquisitoren wollten nicht mit dem Papst die Klingen kreuzen, indem sie einen persönlichen Freund Seiner Heiligkeit als Ketzer hinrichten lassen.
Elija wird also sein Buch Das Königreich der Himmel , das ich den Inquisitoren noch heute vorlegen werde, vor dem Tribunal rechtfertigen müssen … Ja, Celestina, ich sagte: rechtfertigen ! Er muss also seinen Glauben verleugnen, den er gegen Kardinal Cisneros so schlagfertig verteidigt hatte.«
»O nein!« Jakob vergrub das Gesicht in der linken Hand.
»Wird Elija das tun?«, fragte Tristan.
»Ich weiß es nicht«, gestand David traurig. »Vor vier Wochen hat er eine päpstliche Bulle zurückgewiesen, in der ihm die Aufhebung seiner Exkommunikation zugesichert wurde, falls er die Arbeit an seinem Werk aufgibt … Ich werde mit Elija reden, wenn du mich zu ihm lässt.«
»Sprich noch heute mit ihm, David! Denn nicht nur der Savio Grande Zaccaria Dolfin, sondern auch einige Mitglieder im Rat der Zehn fordern Elijas Hinrichtung«, erwiderte Tristan. »Seit die Juden in Venedig sind, gibt es immer wieder blutige Unruhen. Der kleine Jude Moses Rosenzweig und das gekreuzigte Christkind aus dem Fischerdorf Malamocco waren nur zwei von vielen unschuldigen Todesopfern. In der Heiligen Nacht wurde sogar eine Synagoge niedergebrannt. Und am nächsten Karfreitag befürchte ich das Schlimmste. Der Frieden in der Serenissima ist ernsthaft bedroht.
Einige Ratsmitglieder machen Elijas und Celestinas skandalöses Verhalten dafür verantwortlich. Sie fordern, dass Elija für seine Verstöße gegen die Gesetze des vierten Laterankonzils gemäß diesen Gesetzen gerichtet wird: mit dem Tod.«
Zutiefst beschämt senkte ich den Blick.
»Dieser Prozess wird der schwierigste, den ich jemals geführt habe. Denn wie Elija muss ich mit meinem eigenen Gewissen ringen«, offenbarte Tristan uns seine Seelenqualen. »Ich kann diesen Kampf nur verlieren: Wenn ich Elija freilasse, ohne dass er sich zu Jesus Christus bekennt, werde ich mein Amt als Consigliere dei Dieci verlieren – das wäre dann das Ende meiner politischen Karriere. Und wenn ich Elija als Häretiker hinrichte, werde ich einen Freund verlieren, den ich sehr schätze. Ich weiß nicht, ob ich mir die Schuld an seinem Tod jemals vergeben könnte.
Ich kann also nicht gegen Elija gewinnen, sondern nur mit ihm. So wie er nur mit mir.«
Mit lautem Schlüsselgerassel wurde die Tür aufgesperrt.
Mein Gott, wie kalt es in der Zelle war!
Elija stand, den Tallit über Kopf und Schultern, mit dem Rücken zu uns und betete: »Erhöre mich, wenn ich rufe, Du
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