Die Evangelistin
als ich vor Wochen sein Vorwort gelesen hatte.«
Ich nickte. »Leonardo hat mir ins Gewissen geredet, um zu verhindern, dass wir dieses Buch vollenden.«
»Und was hat es genützt? Nichts! Ihr habt weitergeschrieben, ohne dass ich davon wusste! Wie oft war ich in den letzten Wochen bei euch zu Gast! Ich hatte gehofft, dass ihr zur Vernunft gekommen wärt. Und nun … Ich bin zutiefst enttäuscht«, sagte er verbittert, »Und entsetzt! Gestern Nacht habe ich die ersten beiden Kapitel gelesen, die ich an Weihnachten als Beweismittel für den Prozess beschlagnahmt hatte. Leonardo hat Recht: Es ist das gefährlichste Buch, das jemals geschrieben wurde! Es wird Elija auf den Scheiterhaufen bringen.«
»Glaubst du wirklich, dass du mich zurückbekommst, wenn du Elija hinrichten lässt?«, fragte ich. »Vor dem venezianischen Gesetz sind alle Menschen gleich. Wenn du Elija der Häresie bezichtigst, musst du auch mich anklagen, Tristan. Wenn du Elija verbrennst, musst du auch mich auf den Scheiterhaufen schicken. Denn wir erschaffen Das verlorene Paradies gemeinsam.«
Tristan schlug mit der Faust auf die Prozessakten und wandte sich ab. Wie sein Gewissen ihn quälte!
In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er mich endgültig verloren hatte. Denn ich würde Elija nicht verlassen, um in Tristans Bett zurückzukriechen.
Seine Schultern zuckten.
Schließlich fuhr er sich mit dem Ärmel seiner schwarzen Seidenrobe über die Augen und wandte sich wieder zu mir um.
Offfenbar hatte er eine Entscheidung getroffen, und sie war ihm nicht leicht gefallen – das sah ich ihm an.
»Elija steht mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen. Aber es gibt einen Weg, wie du ihm das Leben retten kannst!«
»Wie?«
»In dieser ersten Prozesssitzung ist nur die Anklage wegen Häresie gegen Elija erhoben worden. Das belastende Manuskript eures Buches habe ich dem Consiglio dei Dieci noch nicht vorgelegt. Die Seiten …« Er holte tief Luft und fuhr fort: »Die Seiten mit deiner Handschrift liegen in der ledernen Mappe auf dem Rednerpult. Die Ratsmitglieder wissen also nicht, was in diesem Buch steht. Noch nicht! Ich könnte das Manuskript noch ein paar Tage zurückhalten, bevor ich es vorlege …«
Die Seiten mit deiner Handschrift …
Tristan, was verlangst du von mir!, dachte ich entsetzt.
Er wandte mir den Rücken zu.
Ich trat an das Rednerpult und zog das Verlorene Paradies – das Todesurteil für Elija und für mich – aus seiner Ledermappe. Mein Blick flog über die ersten Zeilen:
›Und so wurde Jeschua zusammen mit seinen jüdischen Brüdern und Schwestern eintausendfünfhundert Jahre lang misshandelt, bedroht, gequält, verhöhnt, verfolgt, beraubt, gedemütigt, ermordet und vertrieben – und von den Christen wieder und wieder ans römische Kreuz geschlagen.‹
Was war der Wert der Wahrheit? Was der Wert eines Menschenlebens? Und noch während ich über diese Fragen nachdachte, zerriss ich die Seiten.
Es war, als ob ich meine Seele zerrisse – meinen Glauben, meine Hoffnung, meine Liebe.
Tristan wandte sich nicht zu mir um, als ich aus dem Ratssaal floh und tränenblind die Treppen hinunterstolperte.
O Gott, diese Schuld!
Als David nach Hause zurückkehrte, verließ ich gegen seinen ärztlichen Rat das Bett. Denn Elijas Bruder fürchtete, dass ich mich überanstrengte und das Kind verlor.
Aber ich würde mehr als nur Netanja verlieren, wenn ich im Bett lag und mich trostlos in den Schlaf weinte.
Um Elijas Leben zu retten, musste ich ihn verraten!
Das Buch, das ihm mehr bedeutete als sein Leben und das doch sein Todesurteil war, hatte ich zerrissen. Und nun musste ich es neu schreiben, damit Tristan es in einigen Tagen im Prozess vorlegen konnte: das wundervolle Werk eines jüdischen Rabbi, der sich zum Messias und zum Gottessohn Jesus Christus und der allein selig machenden Wahrheit des christlichen Glaubens bekannte.
Denn wie konnte ein großer Gelehrter wie Rabbi Elija Ibn Daud, der ein so exzellentes Buch über Jesus Christus geschrieben hatte, ein Häretiker sein? Nein, er durfte nicht verbrannt werden: Die anonyme Beschuldigung in der Bocca di Leone konnte doch nur das Werk eines perfiden Juden sein, der den berühmten Rabbi bei der Inquisition verleumden und die Vollendung seines für die Bekehrung der Juden so überaus wertvollen Werkes verhindern wollte!
An meinem Schreibtisch sitzend blätterte ich in den Evangelien.
›Du bist Petrus, und auf diesem Stein werde ich meine Kirche errichten.‹ Ibn
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