Die Evangelistin
Schlafzimmer, traurig, verwirrt, verzweifelt, aber vor allem wütend auf mich selbst, und kehrte mit den Tefillin in die Bibliothek zurück. Dort zog ich Menandros’ Robe aus, legte den mit meinem Blut durchtränkten Tallit Katan wieder an, schloss den zerfetzten schwarzen Talar mit dem aufgestickten gelben Kreis, nahm meinen Gebetsschal an mich, rannte die Treppen hinunter, riss die Tür auf und lief hinaus auf den Campo.
Ich war viel zu verstört über die zarten Gefühle, die sie in mir wachrief, viel zu entsetzt über mein Verhalten ihr gegenüber, um zu bemerken, dass ich etwas bei ihr zurückgelassen hatte.
· C ELESTINA ·
K APITEL 3
Den Kopf noch in das Kissen geschmiegt, schlug ich die Augen auf. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten die Wellen des Canalazzo und warfen Lichtfunken an die Decke meines Schlafzimmers.
Lächelnd räkelte ich mich im Bett: Es war ein schöner Traum gewesen! Im Schlaf hatte ich sehnsüchtig das Kissen neben mir … hatte ich ihn umarmt.
Erschrocken setzte ich mich auf und zog das Laken über meinen nackten Körper. Wie hatte ich von ihm träumen können! Tristan war doch der Geliebte, mit dem ich lachend im Bett herumtollte, den ich leidenschaftlich liebte und in dessen Armen ich glücklich einschlief.
Wer war Elija ben Eliezar Ibn Daud?
Er schien der Mensch zu sein, den ich in meinem Buch Über die Würde und die Erhabenheit des Menschen beschrieb – ohne ihn bisher gekannt zu haben.
Er war so still gewesen, so in sich gekehrt. Und sein ›Noli me tangere – Berühre mich nicht!‹, als Menandros seine Wunde verbinden wollte, war so selbstbeherrscht gewesen, als wäre er über den Schmerz erhaben. Und doch wirkte er verletzlich – nicht durch blutende Wunden, die ihm zugefügt wurden, sondern durch die Qualen seiner Seele.
Was musste ein Mensch erleiden, um so zu werden, um am Ende Elija Ibn Daud zu sein?
Seufzend ließ ich mich in die Kissen zurücksinken.
Es klopfte leise, und Menandros trat ein. Seine langen Haare waren nass von seinem morgendlichen Bad im Canalazzo. Unter der weiten türkischen Robe war er nackt. Er kam aus dem Garten, denn in der Hand hielt er eine Rose.
»Wie geht es dir?« Er setzte sich auf den Rand meines Bettes und küsste mich. Dann reichte er mir die Rose.
Tief sog ich den Duft der Rosenblüte ein. »Es geht mir gut.«
»Hast du Schmerzen?« Er schlug das Laken zurück und löste den Verband.
»Das Bein ist steif und tut weh. In den nächsten Tagen werde ich wohl keine Nacht durchtanzen können.«
»Dazu wirst du im Vatikan ohnehin nur wenig Gelegenheit haben.«
»Wir gehen nicht nach Rom.«
Menandros sah überrascht auf. »Aber … das Attentat!«
»Du weißt so gut wie ich, wer mich töten will. Giovanni Montefiore hat die Assassini angeworben, um mich hinzurichten. In Rom bin ich nicht sicherer als hier in Venedig. Ich werde nicht fliehen. Ich werde Giovanni Montefiore seinen Triumph nicht gönnen. Wir bleiben hier!«
Unwillig runzelte er die Stirn. »Deine Entscheidung – verzeih mir, wenn ich sie verrückt, ja sogar lebensgefährlich nenne – hat nicht zufällig mit diesem Elija zu tun?«
»Nein!«, protestierte ich – aber offenbar nicht überzeugend genug.
»Es ist die Art, wie du ihn angesehen hast …«
»Ich habe ihn nicht angesehen!«
»Also gut: Es ist die Art, wie du ihn nicht angesehen hast. Und wie er dich nicht angesehen hat. Um Himmels willen, Celestina, sei vernünftig! Er ist ein Ju…«
»Er ist ein Mensch. Und ich bin sehr glücklich, dass ich ihn getroffen habe.«
»Er ist weg«, offenbarte mir Menandros. »Er hat die Nacht in der Bibliothek verbracht. Im Morgengrauen ist er gegangen.«
Enttäuscht ließ ich mich in die Kissen zurücksinken. »Ohne ein Wort des Abschieds?«
Er nickte. »Ich werde mich jetzt um dein Frühstück kümmern. Seit gestern Morgen hast du nichts gegessen.« Daraufhin erhob er sich und ließ mich allein.
Ich starrte auf die tanzenden Lichtfunken an der Decke, den Widerschein der Wellen des Canalazzo.
Warum war er ohne Abschied gegangen?
Ich setzte mich im Bett auf, wickelte mich in das seidene Laken und erhob mich. Das Bein war geschwollen und schmerzte, aber Schritt für Schritt tastete ich mich zur Tür. Dann humpelte ich hinüber zur Bibliothek, wo er die Nacht verbracht hatte.
An der Tür warf ich einen flüchtigen Blick auf die griechische Inschrift ›Wer werden will, der trete ein. Wer glaubt zu sein, komm’ nicht herein‹.
Was hatte er in
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