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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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aussehend, begehrenswert und charmant, sondern auf eine besondere Weise schön und heilig. Er mochte achtunddreißig oder neununddreißig Jahre alt sein, also etwa vierzehn Jahre älter als ich. Die feinen Fältchen um seine Augen gaben seinem Gesicht – die Schicksalsschläge hatten es geformt – etwas Würdevolles. Sein Bart war sehr gepflegt, das lange dunkle Haar fiel ihm in weichen Wellen bis über die Schultern. Trotz seiner Selbstbeherrschung schien er doch ein zutiefst sinnlicher und sehr leidenschaftlicher Mensch zu sein.
    Elija sprach nun von Jesus, den er Rabbi Jeschua nannte.
    Ich suchte in seinen Worten nach einem dissonanten Tonfall, einem emotional gefärbten Wort, mit dem er Christus, in dessen Namen die Juden so viel erlitten hatten, den Messias-Titel als Erlöser der Welt absprach, aber da war keiner. Ganz im Gegenteil: Elija sprach respektvoll, ja sogar liebevoll von Rabbi Jeschua ben Joseph, den er für seine Lehren und seine rabbinische Gesetzesauslegung offenbar sehr schätzte.
    Ich war erstaunt: Elija war, wie ich aufgrund seines spanisch-arabischen Akzentes annahm, ein spanischer Jude. Die Juden waren im Sommer 1492, einen Tag bevor Cristoforo Colombo nach Westen in See stach, um das Paradies zu suchen, durch die Könige Isabel und Fernando aus Kastilien und Aragón vertrieben worden.
    Ich hätte es verstanden, wenn Elija, wie es viele andere Juden taten, Jesus Christus, in dessen Namen so viel Furchtbares geschehen war, aus tiefstem Herzen gehasst hätte. Aber er tat es nicht. Er liebte ihn, er verehrte ihn und ging im Laufe des Disputs sogar so weit, ihn, den jüdischen Rabbi, den verstoßenen Bruder Jeschua, gegen die Angriffe der Christen wortgewaltig zu verteidigen. Zu verteidigen!
    Elija predigte mit weit ausgebreiteten Armen und erhobenen Händen. Er redete mit brennender Leidenschaft, beseelt, begnadet, ja ekstatisch, um einen Herzschlag lang innezuhalten, sich zu besinnen und dann mit neuer Kraft fortzufahren.
    Und doch, trotz seiner Begeisterung und seiner Hingabe, fragte ich mich, welch tiefer Schmerz sich hinter seinen kraftvollen Worten verbarg.
    Ja, Elija litt. Als er von Jesu Opfertod am Kreuz sprach, konnte ich seine inneren Qualen erahnen. Jesus war für ihn mehr als nur ein Symbol für das Leiden des jüdischen Volkes, für seine Demütigung und Vergewaltigung unter dem christlichen Kreuz.
    Wie Elija sich selbst in den Schatten des Kreuzes stellte! Wie er während der Predigt sich selbst verleugnete, als wäre nicht er es, der da sprach, sondern der Geist, der in ihm war: Gott!
    Welche Opfer hatte Elija gebracht?, fragte ich mich, in der Tiefe meiner Seele berührt. Und zu welchen Opfern war er noch bereit? Welche Visionen hatte er noch? Wovon träumte er?
    Der Franziskanermönch – sein Akzent verriet, dass er aus Spanien stammte – ließ sich auf einen Disput mit Elija ein, den er im Grunde schon verloren hatte, als er die erste Wortsalve verschoss, um den Rabbi anzugreifen. Es ging um die christlichen Titel des Messias – Menschensohn, Gottessohn und Davidssohn.
    David beobachtete mich, wie ich still in mich hineinlachend die Disputation des Mönchs und des Rabbi verfolgte. Ich hatte kein Mitleid mit dem Franziskaner, der mit jedem Wort, das Elija ihm entgegenschleuderte, zorniger wurde. Dieser Mönch war einer jener Fanatiker, die von der christlichen Kanzel herab Talmudverbrennungen anordneten.
    Schlagfertig konterte Elija jedes Argument des Franziskaners, zitierte mit erstaunlicher Leichtigkeit die Tora, die Prophetenbücher, die Psalmen und sogar die Evangelien zur Frage, ob Jesus Christus der erwartete Messias der Juden war oder nicht, ob die Welt durch seinen Kreuzestod nun erlöst war oder nicht und ob der Messias am Ende der Zeiten kommen oder, wie die Christen glauben, wiederkommen wird.
    Elija trieb den aufgebrachten Mönch mit ein paar Äußerungen von Jesus selbst in die Enge, der den Menschensohn immer mit den Worten ›er wird kommen‹ und niemals mit dem Versprechen ›ich werde kommen‹ ankündigte – er meinte also einen anderen.
    Der Franziskaner erhob schließlich drohend die Faust – als sei dies das letzte und beste seiner Argumente. Dann verließ er mit fliegendem Mönchshabit die Synagoge.
    David lächelte zufrieden. Er war sehr stolz auf seinen Bruder.
    Am späten Nachmittag war die Lehrstunde beendet. Die Humanisten und Studenten erhoben sich, immer noch angeregt diskutierend, von ihren Sitzen, verabschiedeten sich vom Rabbi und strebten

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