Die Evangelistin
in der Tora unterrichtet.« Er ließ mich eintreten. »Links ist die Treppe zur Galerie, doch sie ist zu schmal, um Euch hinaufzutragen.«
»Es wird schon gehen«, murmelte ich und stieg hinauf.
David folgte mir. Auf der Galerie zog er mich zu einigen Sitzen an der Brüstung, von wo aus ich den Gebetssaal unter mir betrachten konnte.
Der Saal war in Rot und Gold geschmückt und von den Kerzen hell erleuchtet. Auf der Seite nach Osten, nach Jerusalem, so erklärte mir David, befand sich der Tora-Schrein, der mit goldenen Schnitzereien verziert war und zu dem man über vier Stufen hinaufsteigen konnte. Der prächtige Schrein sah aus wie ein goldener Tempel. Ein Ewiges Licht brannte davor, im Gedenken an die Flamme, die im Tempel von Jerusalem vor der Zerstörung durch die Römer geleuchtet hatte.
Auf der anderen Seite des Saals, dem Tora-Schrein gegenüber, führten vier Stufen zu einer ebenso prächtigen Kanzel hinauf, die ein schöner Schriftzug zierte: ›Wisse, vor Wem du stehst.‹ Zwischen Schrein und Kanzel standen sich entlang den Wänden je drei Reihen Bänke aus dunklem Holz gegenüber, die einen Gang bildeten.
Elija stand auf der Kanzel. Er hatte den Kopf mit dem Tallit verhüllt und rezitierte aus der großen Schriftrolle, die vor ihm auf dem Lesepult lag. In der Hand hielt er einen Stab, mit dem er Wort für Wort von rechts nach links über die Zeilen glitt, während er mit einer tiefen und sehr schönen Stimme sang.
Links und rechts von ihm hockten mehrere Männer in dunklen Talaren und Priestergewändern in den Bänken und lauschten seinem Vortrag. Zwei der jungen Männer waren Studenten, das erkannte ich an ihrer Kleidung – vermutlich studierten sie an der Universität von Padua. Ein Mann mit verkniffenem Blick trug den Habit eines Franziskaners, die anderen schienen humanistische Gelehrte zu sein.
Erst jetzt, als ich Elija dort auf der Kanzel stehen sah, wurde mir bewusst, was das Amt des Rabbi bedeutete: Elija war nicht nur ein Schriftgelehrter, ein Lehrer für religionsgesetzliche Fragen, ein Ratgeber und Richter, sondern auch ein Prediger und Seelsorger und hielt, ohne Priester zu sein, Gottesdienste in der Synagoge ab. Das Volk Israel war nach Moses’ Worten ein ›Königreich von Priestern, eine Heilige Nation‹ – und die Rabbinen waren seine Führer auf dem Weg des Gottesgesetzes.
»Was singt er?«, fragte ich David.
»Das ist ein Text aus dem Prophetenbuch Jesaja«, erklärte er flüsternd. »Elija hält den Humanisten einen Vortrag über die Ankunft des Maschiach – des Messias.«
Elija hatte den Vers beendet und rollte nun die große und schwere Schriftrolle weiter ab, bis er zu einem anderen Prophetenbuch kam.
»Und was singt er nun?«
»Einen Vers aus dem Buch Daniel.«
»›Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn‹«, zitierte ich flüsternd den Propheten, während Elija unten im Gebetssaal sang. »›Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum verliehen. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche, und sein Reich geht niemals unter.‹ Der Prophet Daniel über die Ankunft des Menschensohnes.«
»Ihr sprecht Hebräisch?«, fragte David verblüfft.
»Nein, aber ich kenne den griechischen Text der Bibel. Es gibt nur einen Vers bei Daniel, der sich auf den Menschensohn bezieht und von christlichen Theologen immer wieder mit der Ankunft des Messias in Verbindung gebracht wird.«
Elijas Bruder war überrascht. »Habt Ihr Theologie studiert?«
»Nein, nur eine Dachkammer voller Bücher gelesen.«
»Ich bin beeindruckt«, gab David zu.
»Das war nicht schwer.«
»Elija zu faszinieren ist dagegen sehr schwer. Er hat den ganzen Morgen im Gebet verbracht.« David erwiderte meinen erstaunten Blick mit einem Lächeln.
»Ihr sorgt Euch um Euren Bruder.«
»In den letzten Jahren ist ihm sehr wehgetan worden.« David wandte den Blick ab. »Ich will nicht, dass so etwas noch einmal geschieht.«
»Glaubt Ihr denn, dass Ihr Elija vor mir beschützen müsst?«
David schüttelte den Kopf. »Wer kann schon zwei hell strahlende Sternschnuppen aufhalten, die aufeinander zustürzen?« Dann ergriff er meine Hand. »Es ist schön, dass Ihr gekommen seid.«
Elija hatte seinen Gesang beendet und kommentierte für die Humanisten nun auf Lateinisch, was er eben vorgetragen hatte. Er hatte den Tallit um die Schultern gelegt – daher konnte ich nun sein Gesicht betrachten.
Elija war nicht, wie Tristan, gut
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