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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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in die Augen. »Ich wäre auch gekommen, wenn Ihr das Buch nicht bei mir liegen gelassen hättet. Denn …« Ich holte tief Luft. »… denn Ihr seid mir sehr wichtig.«
    Wie zwei aufeinander zustürzende Sternschnuppen, hatte David gesagt. Und ich fragte mich: Was würde geschehen, wenn sie sich berührten?
    Einen Augenblick lang glaubte ich, er würde mich küssen, doch dann wandte er sich ab.
    Warum war er an diesem Morgen vor mir geflohen?
    In diesem Augenblick kehrte David zurück. Über der Schulter trug er seinen Tallit. Als er Elija und mich am Tora-Schrein sah, zögerte er einen Augenblick, um uns Zeit zu geben, unsere Gefühle zu ordnen, doch dann kam er zu uns herüber. Eine Frau folgte ihm.
    »Elija, die Sonne geht unter. Der Freitagabendgottesdienst beginnt gleich, und Aron ist vom Rialto noch nicht zurückgekehrt. Ich mache mir Sorgen um ihn.« David zog Elija zur Seite und redete auf ihn ein.
    Die Frau trat zu mir. »Ich bin Judith, Davids Frau«, stellte sie sich vor. »David sagte mir, Ihr wolltet vermutlich gern am Erev-Schabbat-Gottesdienst teilnehmen. Er bat mich, Euch zu übersetzen.«
    Judiths stilles Lächeln unterstrich noch ihre Schönheit. Sie schlug die Augen nieder, als ich sie betrachtete, und neigte den Kopf auf eine liebenswerte Weise, die bescheiden, aber alles andere als demütig war.
    »Das ist sehr freundlich von Euch, Judith.«
    »Es ist mir eine Freude«, entgegnete sie. »Denn ich weiß, in welche Gefahr Ihr Euch mit dieser Entscheidung begebt. Die Kirche hat die Tischgemeinschaft zwischen Juden und Christen bei Todesstrafe verboten. Wie viel mehr als ein gemeinsames Mahl ist der gemeinsame Gottesdienst?«
    Judith hatte Recht: Das vierte Laterankonzil von 1215 hatte mit seinen Gesetzen die Juden zum von Gott verworfenen Volk erklärt. Sie galten als rechtlos. Dass sie das Gesetz des Moses und den Alten Bund Gottes mit Abraham achteten, war doch nur der überzeugende Beweis, dass sie starrsinnig die Erlösung der Menschen durch Jesu Kreuzestod leugneten und den von Christus im Heiligen Abendmahl gestifteten Neuen Bund missachteten.
    Um die Seele der Christen vor der Verdammnis zu bewahren, war ihnen der gesellschaftliche Umgang mit Juden untersagt worden: keine Tischgemeinschaft, kein Kauf von Lebensmitteln bei Juden. Das Zusammenleben zwischen Juden und Christen in ehelicher Gemeinschaft wurde streng bestraft. Jüdisch-christliche Glaubensdisputationen waren verboten. Jüdische Männer mussten den gelben Judenhut tragen, jüdische Frauen den gelben Schal – ein aufgestickter gelber Kreis verunstaltete ihre Kleidung. Die Juden wurden in besonderen Stadtvierteln angesiedelt, wenn auch nicht in Venedig, denn es gab in der Serenissima kein Judenviertel wie in Florenz oder Rom.
    Allein die Tatsache, dass die Kirche Judengesetze erlassen hatte – über die Sinnhaftigkeit dieser Gesetze ließen sich endlose Disputationen führen, beginnend mit der Frage: Wieso ist meine Seele verdammt, wenn ich koscher esse? –, rechtfertigte für viele Christen Hass und Gewalt. Doch verbargen sich dahinter nicht nur ängstliche Zweifel, selbst womöglich nicht das von Gott erwählte Volk zu sein? Dies war der Anlass für Judenverfolgungen, Talmudverbrennungen und sogar die Ausweisung hunderttausender Juden aus Kastilien und Aragón im Jahr 1492.
    Ich hoffte inständig, dass das fünfte Laterankonzil, das seit zwei Jahren unter dem Vorsitz des Papstes in Rom tagte, um die Kirche zu reformieren, den religiösen Wahnsinn des vierten Laterankonzils rückgängig machen würde. Immerhin war Seine Heiligkeit, mein Cousin Gianni, ein Schüler des Humanisten Giovanni Pico della Mirandola, der wiederum ein Jünger eines jüdischen Rabbi war. Und Gianni hatte offenbar verstanden, was ich mit ›der Würde und der Erhabenheit des Menschen‹ meinte. Und mit seiner Freiheit.
    Judith drückte mir ein Buch in die Hand.
    Ich schlug es auf. »Eine lateinische Bibel?«, fragte ich überrascht. Als ich das Buch schließen wollte, fiel mein Blick auf eine schwungvolle Handschrift auf der ersten Seite:

Vaya con Dios, Juan, y Él va contigo
Fray Hernán de Talavera
Arzobispo de Granada
AD 1507

    Diese lateinische Bibel hatte dem Erzbischof von Granada, dem Beichtvater der Königin Isabel von Kastilien, gehört? Über dem Namen standen ein paar persönliche Worte: ›Vaya con Dios, Juan, y Él va contigo – Geh mit Gott, Juan, und Er wird mit dir gehen.‹ War das ein spanisches Wortspiel? War El ein Gleichnis für

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