Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
mit ihren Büchern unter dem Arm zur Tür.
    »Bitte entschuldigt mich«, flüsterte David, huschte die Treppe hinunter in den Gebetssaal und verließ die Synagoge, bevor sein Bruder ihn bemerkte.
    Still saß ich auf meiner Bank und beobachtete Elija, der sich, als er sich allein im Gebetssaal wähnte, erneut seinen Tallit über den Kopf zog, die schwere Schriftrolle zurückrollte und sich in den heiligen Text vertiefte.
    Der Stab in seiner Hand huschte die Zeilen entlang, blieb hin und wieder an einem Wort hängen, eilte weiter. Die Ehrfurcht gebot, die Schrift nicht mit den Fingern zu berühren.
    Elija bewegte den Oberkörper vor und zurück, und seine Lippen flüsterten die Worte. Zutiefst berührt von der Innigkeit seines Lesens betrachtete ich ihn. Immer wieder hörte ich ihn den Gottesnamen murmeln, aber auch den Namen Satans. Was las er? Dann: der Name Ijob. Es war das Buch Hiob!
    Fühlte Elija sich so von Gott verlassen und gequält wie Hiob? David hatte erzählt, dass sein Bruder den ganzen Morgen im Gebet verbrachte. Welcher Sturm tobte in Elija, dass er Trost bei Hiob suchte?
    ›Der Herr hat gegeben und der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!‹, hatte Hiob gesagt, aber auch, dass er noch mit seinem letzten Atemzug von Gott Gerechtigkeit für die ihm zugefügten Leiden fordern würde. Und Hiob verfluchte Gott auch nicht, als die Prüfungen weitergingen, nein: Er hielt Ihm eine Strafpredigt und bezeichnete Adonai als einen Gott, der niemals das tun würde, was Er, wie Hiob wusste, doch eben gerade getan hatte: den Menschen leiden lassen. Statt der menschlichen machte er die göttliche Gerechtigkeit zum Thema seiner Auseinandersetzung mit Gott. Und der Herr hörte endlich auf, Hiob mit Seiner machtvollen Stimme aus dem Sturm – vergeblich! – niederzubrüllen, und gab den Kampf auf.
    Was hatte Elija erlitten, dass er bei Hiob Trost suchte? Warum … oder: worum rang Elija mit Gott?
    Wenn ich doch nur sein Gesicht sehen könnte!, dachte ich, doch der Tallit verhüllte es.
    Ich sollte gehen, um ihn in seinem Schmerz nicht zu stören.
    Leise erhob ich mich von meinem Sitz und schlich die Galerie entlang zur Treppe. Die fünfte Stufe knarrte, und er blickte überrascht auf. Der Stab schwebte über den Worten, als ich die letzten Stufen herabstieg und langsam zu ihm hinüberging.
    Hatte er gestöhnt, als er mich erkannte?
    Mehr denn je hatte ich den Eindruck, als wäre er an diesem Morgen vor mir geflohen. Aber warum, Elija, warum?
    Schweigend blickte er mir entgegen, ernst und wie erstarrt. Sein Gesicht verriet nicht, was er in diesem Augenblick empfand: Ob er sich freute, weil ich gekommen war. Oder ob er traurig war oder erschrocken, weil ich ihn so gesehen hatte. Oder zornig, weil ich sein Gebet gestört hatte. Er sah mich einfach nur an.
    Was sollte ich ihm sagen? Es schien mir so absurd, ein Gespräch zwischen uns mit Belanglosigkeiten zu beginnen, die goldene Pracht des Tora-Schreins zu loben, die Schönheit und Harmonie dieser Synagoge, die Innigkeit seines Gebets …
    … oder ihm meinen Seelenzustand zu offenbaren.
    Wortlos legte ich Ibn Shapruts Buch auf die Kanzel und trat dann einen Schritt zurück.
    Elija starrte das Buch an. Schließlich wandte er sich abrupt ab, um die Schriftrolle in ihre kostbare Samthülle zu schieben und zum Schrein zurückzutragen. Mit einem gemurmelten Gebet schloss er die Türen und lehnte sich mit der Stirn dagegen.
    »Warum seid Ihr gekommen?«, fragte er, ohne sich zu mir umzudrehen.
    »Ich wollte Euch das Buch …«
    »Ihr hättet Menandros schicken können.«
    »Wäre es Euch lieber gewesen, wenn ich nicht gekommen wäre?«
    Er zögerte einen Herzschlag lang. »Nein«, gestand er so leise, dass ich ihn kaum verstand. Seine Hand glitt über die goldenen Verzierungen des Tora-Schreins, als taste er nach einem Halt. »Weshalb seid Ihr wirklich gekommen?«
    »Ich wollte Euch wiedersehen.«
    Selbst unter dem Tallit sah ich, wie er die Schultern anspannte. »Warum?«
    »Weil ich glaube, dass Ihr mich sehr vieles lehren könntet.«
    Er hatte einen der langen Merkfäden an den Ecken seines Tallit ergriffen und betrachtete ihn still. Diese Fransen am Gebetsschal waren ein Symbol der Erinnerung, der Mahnung: ›Vergiss niemals, dass du ein Kind Gottes bist und dass du heilig sein kannst, wenn du die Gebote hältst.‹
    Dann sagte er leise, und seine Stimme klang traurig: »Ich kann Euch nichts lehren.«
    »Glaubt Ihr das, weil Ihr in der letzten Nacht mein

Weitere Kostenlose Bücher