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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Manuskript gelesen habt?«
    Erschrocken drehte er sich zu mir um.
    »Glaubt Ihr das, weil ich Marsilio Ficino und Giovanni Pico zitiere? Weil ich weiß, wer Rabbi Akiba war? Weil ich Paulus widerlege? Wenn Ihr aufmerksam gelesen habt, Elija, dann wisst Ihr, dass ich excellentia nicht mit Vollkommenheit, sondern mit dem Streben nach Vollkommenheit gleichsetze. Ein Verdurstender, der in der Wüste nach Wasser sucht, kehrt nicht um, bevor er den Horizont erreicht hat – oder den Brunnen gefunden hat, der ihm das Leben rettet.«
    Er musterte mich gedankenvoll.
    »Warum betrat jener Mensch denn überhaupt die Wüste?«, fragte er schließlich.
    »Weil er das Leben lernen will, das Überleben. Weil er das Denken lernen will, das Staunen, das Glauben und das Zweifeln. Weil er die Versuchung kennen lernen will, um die Selbstmacht zu erringen. Weil er stürzen will, um sich aus eigener Kraft zu erheben. Weil er das Verlieren lernen will, um am Ende zu gewinnen. Weil er seine eigenen Grenzen kennen lernen will, um sie im nächsten Augenblick zu überschreiten.«
    »Ihr sprecht wie jemand, der wirklich in der Wüste war.«
    »Ich habe die Wüste Sinai durchquert, vom Schilfmeer bis zum Mosesberg.«
    Er nickte – beeindruckt, wie mir schien. »Und was habt Ihr dort gefunden?«
    »Das, was Euer Volk dort gefunden hat, Elija: die Freiheit. Die Freiheit zu entscheiden, welchem Gott ich dienen will. Die Freiheit zu entscheiden, welchen Weg ich durch die Wüste gehen will. Die Freiheit zu entscheiden, wo ich am Ende stehen bleiben will. Und die Freiheit zu entscheiden, was ich noch lernen kann. Und von wem. Sagt mir also bitte nicht, was ich kann und was ich nicht kann, was Ihr mich lehren könnt und was nicht. Denn das, Elija, weiß ich ganz genau.«
    Er schwieg betroffen. Aber dann lächelte er. »Und was, Celestina, kann ich von Euch lernen?«
    »Ihr könntet, wenn Ihr wolltet, Griechisch bei mir lernen.«
    Er biss sich auf die Lippen und schwieg.
    »Ihr könntet, wenn Ihr wolltet, die Evangelien in Griechisch lesen.«
    Er schwieg noch immer. Seine Augen funkelten.
    Ein Argument hatte ich noch, das beste von allen: Ibn Shapruts Buch. »Und Ihr könntet, wenn Ihr wolltet, die griechischen Evangelien mit Ibn Shapruts hebräischem Matthäus-Evangelium vergleichen.«
    Er zögerte, doch dann nickte er. »Woher wisst Ihr von dem Evangelium? Ihr sprecht kein Hebräisch.«
    »Durch Eure Bemerkungen am Rand des Buches. In Kapitel Zwölf waren es besonders viele. Der ganze Seitenrand war vollgeschrieben. Ich wusste manchmal nicht, wo Shemtov endet und Elija anfängt. Schließlich stieß ich auf eine lateinische Randbemerkung, die ich lesen konnte: ›Tu es Petrus …‹ in Matthäus Kapitel 16, Vers 18. Ich habe den hebräischen Text übersetzt. Es war tatsächlich das Evangelium des Mattitjahu. Aber die Worte und ihr Sinn waren anders, als ich sie bisher aus den griechischen und lateinischen Texten kannte.«
    Wir sahen uns in die Augen, doch der Abgrund des Schweigens trennte uns nicht, nein: die Wortlosigkeit verband uns. Keiner von uns sprach aus, was wir beide dachten:
    Du kannst es nicht ohne mich, ich kann es nicht ohne dich.
    Ich durfte ihn nicht bitten: Er musste selbst entscheiden, ob er sein Wissen um die Geheimnisse dieses Buches mit mir teilen wollte. Ob er gemeinsam mit mir an dieser gefährlichen Übersetzung arbeiten wollte.
    Bitte, Elija, frag mich, bitte, frag mich doch! Ich will dir so gern helfen! Wir suchen doch beide dasselbe, Elija: die Wahrheit!, dachte ich. Aber ich blieb stumm.
    »Ja, Celestina, ich würde gern von Euch Griechisch lernen«, gestand er schließlich.
    Ein langer Weg durch die Wüste beginnt mit einem ersten Schritt, dachte ich. Achte nicht auf die Steine am Wegrand und verliere niemals den Horizont aus den Augen!
    Er bemerkte die Enttäuschung in meinem Blick, und ich wandte mich ab. »Morgen ist Sabbat. Wollt Ihr am Sonntag für die erste Stunde zu mir kommen? Ich würde Euch gern die Grundregeln der griechischen Grammatik anhand des ersten Kapitels des Mattitjahu-Evangeliums erklären.«
    Ich hatte Matthäus mit seinem hebräischen Namen Mattitjahu genannt, nicht Mattaios, wie er auf Griechisch hieß. Und Elija verstand sehr gut, was ich meinte, ohne es zu sagen.
    Er lächelte. »Das wäre ein guter Anfang.« Dann ergriff er meine Hand. »Celestina …«
    »Ja?«
    »Ich bin sehr froh, dass Ihr gekommen seid und mir den Prüfstein zurückgebracht habt. Das Buch ist mir sehr wichtig.«
    Ich sah ihm

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